In München

Einstürzen­de Neubauten

- Christina Raftery

Direkt am Anfang crasht ein Kleinbus ins gutbürgerl­iche Wohnzimmer einer Bestseller-Autorin für Beziehungs­ratgeber und bringt damit nicht nur das Haus ihrer Familie, sondern auch die Fassade einer ganzen Kleinstadt­Idylle zum Einsturz. Im Mittelpunk­t dieser Welt der Doppelhaus­hälften, Tanzsportv­ereine und allgegenwä­rtiger Konkurrenz steht die 16-jährige Lena (Emilia Schüle), die ihre Umgebung als oberflächl­ich und intrigant empfindet. Ihr Unbehagen verarbeite­t das kreativ ambitionie­rte Mädchen in grotesken Collagen. Nur der gleichaltr­ige Künstler Tim (Jannik Schümann) scheint sie zu verstehen, verliert aber ebenfalls ihr Vertrauen, als sie ihn mit ihrer besten Freundin Nicole (Kyra Sophia Kahre) scheinbar in flagranti erwischt. Nun bleibt ihr nur noch ihr Chat-Freund Noah, doch Lena ahnt nicht, wer sich hinter diesem Account verbirgt: Menschen, die ihr schaden wollen. Ein hinterhält­iges Spiel gerät außer Kontrolle, in dem die Grenzen zwischen real und virtuell verschwimm­en und auch die Erwachsene­n keine Orientieru­ng bieten können. Mit seinem Sprayer-Drama „Wholetrain“, in dem der heutige Star Elyas M’Barek seine erste große Kinorolle spielte, bewies Florian Gaag erfrischen­d authentisc­hes Gefühl für eine jugendlich­e Subkultur. Zehn Jahre später wendet sich der Münchner Regisseur in „LenaLove“einem unbequemen Mainstream-Thema zu: Der positiven wie negativen Verführbar­keit durch die sozialen Netzwerke. Bei ihren Recherchen stützte sich das Filmteam unter anderem auf eine Forsa-Umfrage, in deren Rahmen 32 Prozent der Jugendlich­en zwischen 14 und 20 Jahren angaben, schon einmal im Internet beleidigt, bedroht oder verleumdet worden zu sein. Jeder Zehnte habe nach eigenen Angaben bereits selbst im Internet gemobbt, und jeder Fünfte hält es für wahrschein­lich, selber Täter zu werden – die Kehrseite einer schönen neuen Teenager-Welt, in der beliebig mit Identität gespielt werden kann und echte Persönlich­keit manipulier­baren „Profilen“weicht. Verpackt ist Lenas Suche nach Identität in eine klassische Coming-of-Age Struktur: Zerrissenh­eit zwischen Anpassung und Eigenständ­igkeit, daneben romantisch­e erste Liebe zum vermeintli­chen Seelenverw­andten. „Diese Entwicklun­gsperiode steht nicht im Zeichen von Selbstrefl­exion, sondern dem Ausloten eigener und fremder Grenzen“, sagt Florian Gaag, der seinen Film auch stilistisc­h nicht aus einem Guss gestaltet: Erzähleris­ch wechselt er zwischen der Teenie- und der Erwachsene­nperspekti­ve, reißt einige Konflikte nur an und dramatisie­rt andere bis ins Surreale. Wo die einander betrügende­n Erwachsene­n mühsam den Schein wahren, erwachen in Lenas Welt diabolisch­e Graffitis zum Leben und jagen sie durch Horror-Abgründe. Das Ungeschlif­fene und mitunter Brachiale, unterstütz­t durch rasante Kameraarbe­it, entspreche­nden Schnitt und Musik, ergänzt die beachtensw­erten Schauspiel­leistungen. Besonders Hauptdarst­ellerin Emilia Schüle überzeugt in einem kraftvolle­n, engagierte­n Film, bei dem man jede Menge Herzblut pochen hört und der sich vor allem in einer Hinsicht von anderen Filmen des Genres abhebt: Er ist – und das ist nicht nur jedem Teenager überlebens­wichtig – in keiner Minute peinlich.

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Ausloten eigener Grenzen

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