Schamhafte Blicke in die düstere Hölle
Mord, Verrat, Schuld, Sühne und tragische Missverständnisse: Der düstere Bühnenherbst hat begonnen
Er hatte es sich sehr einfach gemacht. Meint zumindest Kamel Dahoud. Der algerische Journalist und Romancier gibt in Der Fall Meursault – Eine Gegendarstellung dem namenlosen Araber, der bei Albert Camus am Strand erschossen wird, ein Gesicht – und eine Geschichte. Aufbauend und als bewusste Replik auf „Der Fremde“angelegt, kämmt Dahoud nun die existenzialistische Erzählung noch einmal gegen den Strich, aufgearbeitet aus der Sicht des Opfers. Seine „Gegendarstellung“hat nicht nur in Deutschland eine breite Leserschaft gefunden, sondern schlug vor allem in der arabischen Welt hohe Wellen. Höchste Zeit also für eine Bühnenbearbeitung, die am Haus von Intendant Matthias Lilienthal noch eine besondere Volte bekommt: Inszeniert wird sie nämlich von dem aus dem Iran stammenden, mehrfach preisgekrönten Regisseur Amir Reza Koohestani. Der lässt sich auf das Wagnis ein, die postkoloniale Sicht hinter sich zu lassen und das Geschehen zu einer allgemeinen Menschheitserzählung über Unterdrückung, Wiederaneignung und Selbstbehauptung zu verdichten. Er arbeitet dabei mit iranischen, libanesischen, lettischen, bulgarischen, schweizerischen und deutschen Schauspielern zusammen. (Kammerspiele, ab 29.9.)
Mit großen Menschheitsfragen und der aktuellen Brisanz von Schuldigwerden durch Wegsehen beschäftigt sich auch Dea Lohers Unschuld-Premiere, die Lilja Rupprecht bearbeitet hat. In einer Stadt im weiten Irgendwo Europas versuchen Fadoul und Elisio, zwei illegale Immigranten, mit dem Blick über das weite Meer die Freiheit zu spüren und eine noch graue Zukunft zu erahnen. Doch was sie sehen, ist etwas sehr Konkretes, Schreckliches: Eine junge Frau geht ins Wasser – um den Tod zu finden. Sie schauen ihr zu – und helfen nicht. So abrupt setzt ein Reigen von 19 Geschichten ein, die alltäglich wirken, und die doch ein sehr subtiles Gespür für Grauen auszeichnen. (Volkstheater, 22. und 23.9. sowie 4.10.)
Auf den Moment, doch endlich einzugreifen in den verhängnisvollen Lauf der Geschichte, hat Hugo, ein junger Intellektueller, der mit seiner bürgerlichen Herkunft längst gebrochen hat, lange gewartet. Er ist in die kommunistische Partei eingetreten und will sich mit den Mächtigen im fiktiven Land Illyrien anlegen. Auf das Blut an seinen Fingern wartet er geradezu. Wie Camus hat auch Jean Paul Satre mit „Die schmutzigen Hände“einen Schlüsseltext des Existenzialismus vorgelegt – nur dass er die Hinwendung zur Tat feiert. Hugo wird als Sekretär beim Politiker Hoederer, einem charismatischen Polit-Pragmatiker, eingeschleust. Mit nur einem Ziel – ihn zu töten. (Cuvilliés-Theater, 24./25. und 27.9.)
Menschen, die ihr eigener messerscharfer Verstand in die Enge getrieben hat, legte uns Friedrich Schiller in seinem Sturm- und Drang-Meisterwerk Die Räuber auf den Seziertisch. Es geht darum, „die Seele bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“, wie der Dichter in seiner Vorrede schreibt. Zugespitzt wird der Machtkampf hier auf zwei heillos zerstrittene Brüder – Franz und Karl, die beide einen nahezu manischen Freiheitsbegriff vor sich hertragen. Ulrich Rasche, der erstmalig in München arbeitet, hat Schillers Figuren in das Räderwerkt einer gewaltigen Menschen-MaschinenMusik-Theater-Industrie eingespannt, die düster wirkt, natürlich aber für Erhellung sorgen soll. (Residenztheater, ab 23.9.)
Für die finstere Mechanik interessiert sich auch Jan Meyer in seiner Hamlet: Eine Maschine-Regiearbeit, die sich die wohl berühmtesten Figur der Theatergeschichte mal wieder vorknöpft. Was wir kennen: Hamlet, den Zweifler, den Wahnsinnigen, den Einsamen, den Schauspieler. Stets aufs Neue versuchen die Shakespeare-Inszenierungen ihm nahe zu kommen. Doch wie geht die Freie Bühne München vor? Sie untersucht „die Maschine“– und greift dabei beherzt in die Speichen. (Gasteig Black Box, 24. und 25.9.)
Von der Unfreiheit erzählt noch einmal Andreas W. Kohn in seinem Holilend-Stück, das erneut in die Welt der Heimatlosen, der Getriebenen, der modernen Nomaden führt. In einer verkauften Welt hat auch die Freiheit ihren Preis. Werden die Lebensbedingungen dem Menschen zum Feind, dann muss er gehen. Doch wohin – wenn es den Sehnsuchtsort längst nicht mehr gibt? Das Stück in drei Akten und drei Choreographien thematisiert Besitz und Besessenheit, Heimat und Fremde. Und zum Glück auch ein wenig – das Glück. (Theater und so fort, ab 22.9.)
Aufbruch – und doch keine Befreiung: Das Kollektiv Agora Kätzchen hat in den vergangenen Wochen die Entenbachstraße ganz genau unter die Lupe genommen. In einer begehbaren Installationen erkunden hier die Zuschauer das Befremdliche im vermeintlich Vertrauten: Begleitet von einer Tonspur geht es auf einen Ausflug zwischen Realität und Fiktion. Aber Vorsicht: Es ist ein Walk of Shame. Wir begegnen Freizeitsportlern, die ihre Jogginghosen-Beine an einer Parkbank reiben, Partygänger, die noch den Beat der vergangenen Nacht in ihren Gliedern spüren und Passanten, die ihr Herz verlieren. Und immer wieder geht der Griff in die Hose. Blicke fliegen hin und her. Es geht um das Gefühl, das sich nicht kontrollieren lässt: die Scham. (Theater Hoch X, 22. bis 24.9.)
Auf die Zwischenräume blickt bzw. horcht sehr genau das aus einem internationalen Workshop heraus entstandene Theaterprojekt Si-mul-tan. Es geht um die technischen Störungen und psychologischen Irritationen im Miteinander, um Verzögerungs- und Verschiebungsprozesse. Dabei hat vieles damit zu tun, dass sich beim Dolmetschen eine Zeitfuge zwischen Originalvortrag und dem übersetzten Text ergibt. (Schwere Reiter, ab 26.9.)
Den Blick in eine bedrohliche Zukunft richtet dagegen die Future Disco-Produktion, die auf einer Ideen von Maximilian Sachsse basiert. Sie pervertiert das alte Sprichwort von der Stadtluft, die angeblich frei macht. Im Jahre 2980, in dem das Stück angesiedelt ist, bleibt nur noch der krankmachende Moloch. Schlimmer noch: Auch die Freiheit ist in akuter Gefahr. Alle staatlichen Institutionen haben sich aufgelöst. Regierungen? Fehlanzeige. Was bleibt ist eine gigantische Disco, die keine Unterschiede mehr macht zwischen Arm und Reich, zwischen Gut und Böse. (Pepper Theater, 22.9.)
Äußerst ungemütlich wirkt auch das Szenario, auf das Die Menschenfabrik, inspiriert von eine phantastischen Erzählung von Oskar Panizza, zurückgreift: In der monströsen Industrieanlage, in die ein Wanderer in tiefer Nacht hineinstolpert, werden doch tatsächlich Menschen erschaffen – so wie der Bäcker das Brot backt. Jeder Kundenwunsch wird dabei berücksichtigt: Auf lästige Eigenschaften wird verzichtet, das Aussehen ist immer strahlend, selbstständiges Denken und ein eigener Wille wurden eliminiert. Der neue Mensch hat stabil und vorhersagbar zu sein, heißt es dort. Dieser Theaterherbst beginnt düster und gruselig. (Viel Lärm um Nichts, ab 1.10.)