In München

Schamhafte Blicke in die düstere Hölle

Mord, Verrat, Schuld, Sühne und tragische Missverstä­ndnisse: Der düstere Bühnenherb­st hat begonnen

- Rupert Sommer

Er hatte es sich sehr einfach gemacht. Meint zumindest Kamel Dahoud. Der algerische Journalist und Romancier gibt in Der Fall Meursault – Eine Gegendarst­ellung dem namenlosen Araber, der bei Albert Camus am Strand erschossen wird, ein Gesicht – und eine Geschichte. Aufbauend und als bewusste Replik auf „Der Fremde“angelegt, kämmt Dahoud nun die existenzia­listische Erzählung noch einmal gegen den Strich, aufgearbei­tet aus der Sicht des Opfers. Seine „Gegendarst­ellung“hat nicht nur in Deutschlan­d eine breite Leserschaf­t gefunden, sondern schlug vor allem in der arabischen Welt hohe Wellen. Höchste Zeit also für eine Bühnenbear­beitung, die am Haus von Intendant Matthias Lilienthal noch eine besondere Volte bekommt: Inszeniert wird sie nämlich von dem aus dem Iran stammenden, mehrfach preisgekrö­nten Regisseur Amir Reza Koohestani. Der lässt sich auf das Wagnis ein, die postkoloni­ale Sicht hinter sich zu lassen und das Geschehen zu einer allgemeine­n Menschheit­serzählung über Unterdrück­ung, Wiederanei­gnung und Selbstbeha­uptung zu verdichten. Er arbeitet dabei mit iranischen, libanesisc­hen, lettischen, bulgarisch­en, schweizeri­schen und deutschen Schauspiel­ern zusammen. (Kammerspie­le, ab 29.9.)

Mit großen Menschheit­sfragen und der aktuellen Brisanz von Schuldigwe­rden durch Wegsehen beschäftig­t sich auch Dea Lohers Unschuld-Premiere, die Lilja Rupprecht bearbeitet hat. In einer Stadt im weiten Irgendwo Europas versuchen Fadoul und Elisio, zwei illegale Immigrante­n, mit dem Blick über das weite Meer die Freiheit zu spüren und eine noch graue Zukunft zu erahnen. Doch was sie sehen, ist etwas sehr Konkretes, Schrecklic­hes: Eine junge Frau geht ins Wasser – um den Tod zu finden. Sie schauen ihr zu – und helfen nicht. So abrupt setzt ein Reigen von 19 Geschichte­n ein, die alltäglich wirken, und die doch ein sehr subtiles Gespür für Grauen auszeichne­n. (Volkstheat­er, 22. und 23.9. sowie 4.10.)

Auf den Moment, doch endlich einzugreif­en in den verhängnis­vollen Lauf der Geschichte, hat Hugo, ein junger Intellektu­eller, der mit seiner bürgerlich­en Herkunft längst gebrochen hat, lange gewartet. Er ist in die kommunisti­sche Partei eingetrete­n und will sich mit den Mächtigen im fiktiven Land Illyrien anlegen. Auf das Blut an seinen Fingern wartet er geradezu. Wie Camus hat auch Jean Paul Satre mit „Die schmutzige­n Hände“einen Schlüsselt­ext des Existenzia­lismus vorgelegt – nur dass er die Hinwendung zur Tat feiert. Hugo wird als Sekretär beim Politiker Hoederer, einem charismati­schen Polit-Pragmatike­r, eingeschle­ust. Mit nur einem Ziel – ihn zu töten. (Cuvilliés-Theater, 24./25. und 27.9.)

Menschen, die ihr eigener messerscha­rfer Verstand in die Enge getrieben hat, legte uns Friedrich Schiller in seinem Sturm- und Drang-Meisterwer­k Die Räuber auf den Seziertisc­h. Es geht darum, „die Seele bei ihren geheimsten Operatione­n zu ertappen“, wie der Dichter in seiner Vorrede schreibt. Zugespitzt wird der Machtkampf hier auf zwei heillos zerstritte­ne Brüder – Franz und Karl, die beide einen nahezu manischen Freiheitsb­egriff vor sich hertragen. Ulrich Rasche, der erstmalig in München arbeitet, hat Schillers Figuren in das Räderwerkt einer gewaltigen Menschen-MaschinenM­usik-Theater-Industrie eingespann­t, die düster wirkt, natürlich aber für Erhellung sorgen soll. (Residenzth­eater, ab 23.9.)

Für die finstere Mechanik interessie­rt sich auch Jan Meyer in seiner Hamlet: Eine Maschine-Regiearbei­t, die sich die wohl berühmtest­en Figur der Theaterges­chichte mal wieder vorknöpft. Was wir kennen: Hamlet, den Zweifler, den Wahnsinnig­en, den Einsamen, den Schauspiel­er. Stets aufs Neue versuchen die Shakespear­e-Inszenieru­ngen ihm nahe zu kommen. Doch wie geht die Freie Bühne München vor? Sie untersucht „die Maschine“– und greift dabei beherzt in die Speichen. (Gasteig Black Box, 24. und 25.9.)

Von der Unfreiheit erzählt noch einmal Andreas W. Kohn in seinem Holilend-Stück, das erneut in die Welt der Heimatlose­n, der Getriebene­n, der modernen Nomaden führt. In einer verkauften Welt hat auch die Freiheit ihren Preis. Werden die Lebensbedi­ngungen dem Menschen zum Feind, dann muss er gehen. Doch wohin – wenn es den Sehnsuchts­ort längst nicht mehr gibt? Das Stück in drei Akten und drei Choreograp­hien thematisie­rt Besitz und Besessenhe­it, Heimat und Fremde. Und zum Glück auch ein wenig – das Glück. (Theater und so fort, ab 22.9.)

Aufbruch – und doch keine Befreiung: Das Kollektiv Agora Kätzchen hat in den vergangene­n Wochen die Entenbachs­traße ganz genau unter die Lupe genommen. In einer begehbaren Installati­onen erkunden hier die Zuschauer das Befremdlic­he im vermeintli­ch Vertrauten: Begleitet von einer Tonspur geht es auf einen Ausflug zwischen Realität und Fiktion. Aber Vorsicht: Es ist ein Walk of Shame. Wir begegnen Freizeitsp­ortlern, die ihre Jogginghos­en-Beine an einer Parkbank reiben, Partygänge­r, die noch den Beat der vergangene­n Nacht in ihren Gliedern spüren und Passanten, die ihr Herz verlieren. Und immer wieder geht der Griff in die Hose. Blicke fliegen hin und her. Es geht um das Gefühl, das sich nicht kontrollie­ren lässt: die Scham. (Theater Hoch X, 22. bis 24.9.)

Auf die Zwischenrä­ume blickt bzw. horcht sehr genau das aus einem internatio­nalen Workshop heraus entstanden­e Theaterpro­jekt Si-mul-tan. Es geht um die technische­n Störungen und psychologi­schen Irritation­en im Miteinande­r, um Verzögerun­gs- und Verschiebu­ngsprozess­e. Dabei hat vieles damit zu tun, dass sich beim Dolmetsche­n eine Zeitfuge zwischen Originalvo­rtrag und dem übersetzte­n Text ergibt. (Schwere Reiter, ab 26.9.)

Den Blick in eine bedrohlich­e Zukunft richtet dagegen die Future Disco-Produktion, die auf einer Ideen von Maximilian Sachsse basiert. Sie pervertier­t das alte Sprichwort von der Stadtluft, die angeblich frei macht. Im Jahre 2980, in dem das Stück angesiedel­t ist, bleibt nur noch der krankmache­nde Moloch. Schlimmer noch: Auch die Freiheit ist in akuter Gefahr. Alle staatliche­n Institutio­nen haben sich aufgelöst. Regierunge­n? Fehlanzeig­e. Was bleibt ist eine gigantisch­e Disco, die keine Unterschie­de mehr macht zwischen Arm und Reich, zwischen Gut und Böse. (Pepper Theater, 22.9.)

Äußerst ungemütlic­h wirkt auch das Szenario, auf das Die Menschenfa­brik, inspiriert von eine phantastis­chen Erzählung von Oskar Panizza, zurückgrei­ft: In der monströsen Industriea­nlage, in die ein Wanderer in tiefer Nacht hineinstol­pert, werden doch tatsächlic­h Menschen erschaffen – so wie der Bäcker das Brot backt. Jeder Kundenwuns­ch wird dabei berücksich­tigt: Auf lästige Eigenschaf­ten wird verzichtet, das Aussehen ist immer strahlend, selbststän­diges Denken und ein eigener Wille wurden eliminiert. Der neue Mensch hat stabil und vorhersagb­ar zu sein, heißt es dort. Dieser Theaterher­bst beginnt düster und gruselig. (Viel Lärm um Nichts, ab 1.10.)

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Auf der schiefen Bahn: DIE RÄUBER
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In die Speichen gegriffen: HAMLET: EINE MASCHINE

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