Glamour und Melancholie
„Nocturnal Animals“von Tom Ford
Warum verraten wir, was wir lieben? Warum verspielen wir unser Glück und taumeln durchs Leben wie vom Scheinwerfer geblendete Tiere in der Nacht? Dass es in Tom Fords zweitem, bei den Filmfestspielen von Venedig mit dem Großen Preis der Jury prämierten Spielfilm um Gewissenserforschung geht, bemerkt man nicht sogleich, denn das existentiell packende und visuell brillante Drama offenbart sein thematisches Herzstück auf raffiniert verschlungenen Pfaden. In Schüben aus Schock und Trauma, in der Konfrontation von kristalliner Ordnung und blutigem Chaos. Tom Ford, geboren 1961 in Austin/Texas, war bereits ein berühmter Modedesigner, als er mit „A Single Man“(2009) sein hochgelobtes Regiedebüt gab. Schon in diesem Kammerspiel verblüffte er mit der Kunst, hinter cooler Ikonographie existentielle Dramen zu erspüren. In seiner eigenwilligen Adaption des Romans „Tony & Susan“von Austin Wright weitet er nun den erzählerischen Raum. Er präsentiert Susan: eine Galeristin und Kunstkuratorin in Los Angeles, die von Amy Adams mit grandioser Perfektion verkörpert wird. Alles in Susans durchgestylter Luxuswelt ist Design, Inszenierung, Show: vom knallroten Lippenstift bis zu den grotesk übergewichtigen Frauenkörpern ihrer VernissagePerformance. Sie hat einen reichen Ehemann und Erfolg mit der Ausstellung, aber man spürt ihre Trauer, ihr Unglück. Sie lebt in einer Schneewittchenwelt der gefrorenen Gefühle und des kalten Eros. Ein Leben wie in einem gläsernen Sarg. Ford lockt uns in die Faszination dieser Welt, um sie Schritt für Schritt zu zertrümmern, wenn plötzlich Susans Ex-Ehemann Tony (Jake Gyllenhaal) nach 20 Jahren wieder in ihr Leben tritt. Er schickt ihr das noch unveröffentlichte Manuskript seines ersten Romans mit dem Titel „Nocturnal Animals“(„Nachtaktive Tiere“). Nachts im Bett – ihr Ehemann befindet sich wie so oft auf Geschäftsreise – beginnt sie mit der Lektüre und schon entrollt sich die Romangeschichte als Film-im-Film: der Albtraum eines blutigen Thrillers, der Susan aufwühlt, denn er erinnert sie an die Momente von Feigheit, Versäumnis und Verrat in ihrer eigenen Lebensgeschichte. Warum hat sie Tony, den sie liebte, verlassen? Warum landete sie in dieser Schneewittchenwelt aus Glamour und Melancholie? In einer Erinnerungssequenz – toller Auftritt der herrlich bösartigen Laura Linney – erfahren wir, dass die Hexe, die ihr den vergifteten Apfel reichte, ihre Mutter war. Damals flüsterte sie ihr zu: „Dieser Tony ist zu schwach für dich!“Geschickt verknüpft Ford die drei Erzählebenen: Gegenwart, Roman-Fiktion und Erinnerung. Die lang verdrängten Bilder von den falschen Weichenstellungen ihres Lebens tauchen schmerzhaft wieder auf und drehen sich in einem wilden Wirbel bohrender Gewissenserforschung. Erfolgreichsein ist die amerikanische Religion – und das US-Kino huldigt ihr üblicherweise mit Geschichten, die Erfolg und Moral feierlich versöhnen. Dieser Logik widersetzt sich Tom Ford auf radikale und faszinierende Weise.