Warum der Mensch an Fakten glauben muß (und was das mit der Post zu tun hat)
Derzeit vergeht kaum ein Tag, an dem mir nicht hochöffiziös mit gespreiztem Zeigefinger mitteilt, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Selbst Bundessalbentube J. Gauck, der ansonsten außer einem militärisch umflorten „Freiheit!“kaum was aus seinem Sinnmachungsorgan herausquetschen kann, ohne sich im ärgsten Gestrüpp von Bullshit und Antigrammatik zu verheddern, trompete in die Nachrichten hinein, es gehe nicht an, daß „Fakten eine immer geringere Rolle spielen“. Freilich sind „postfaktische Zeiten“an sich ein Schmarrn, schließlich können Zeiten auch nicht „faktisch“sein. Aber mei, wir wissen ja, was ungefähr gemeint ist: Die Leute, heißt es, glauben nicht mehr an Fakten, sondern nur noch an wirre Meinungen, die ihnen aus „Echoräumen“entgegenschallen, wo sie sie zuvor selbst hineingeplärrt haben. Wir könnten uns fragen, wieso die hochoffiziösen Mahner „Fakten“sagen und nicht „Tatsachen“. Aber klar: An Tatsachen muß man nicht glauben, die sind einfach da und tatsächeln unberührt von religiösen Belangen vor sich hin. An „Fakten“hingegen muß man glauben, weil sie sonst – schwupps! – weg sind. So wie das Christkind und der alternativlose Kapitalismus, an die ja auch Leute glauben. Dummerweise nicht mehr so viele, weil wir jetzt postfaktisch geworden sind und gar nichts mehr glauben wollen (höchstens Postfakten, aber von denen gibt es vermutlich noch zu wenige). Apropos Post: Fakt ist z. B., daß die Privatisierung der Bundespost eine „Erfolgsgeschichte“war. Was wir nicht mehr so recht glauben, wenn wir uns (am besten in der Vorweihnachtszeit) die Schlangen vor den wenigen verbliebenen Filialen anschauen oder die Entwicklung der Preise für Kommunikation über die letzten Jahrzehnte mit dem Einkommen der Leute vergleichen, die Briefe verteilen, Leitungen einbuddeln und sich in Callcentern Infarkte und Depressionen holen. Wenn wir frech sind, fragen wir, wieso man eine Enteignung, bei der etwas, das allen gehört hat, hinterher zu 92,5 Prozent Banken, Konzernen und Fondsgesellschaften gehört, als „Privatisierung“bezeichnet. Dann wird man uns erklären, Banken, Konzerne und Fondsgesellschaften seien eben privat und wir sollten gefälligst aus unserem Echoraum herauskommen. Wie waren sie gemütlich, die faktischen Zeiten! Der faktische Deutsche glaubte schon im Mittelalter an den Fakt, daß der Semit Brunnen vergiftet und die Pest verbreitet, und daran glaubte er im mittleren 20. Jahrhundert noch viel fester. Er glaubte an die gelbe Gefahr und den Unhold östlich der Memel, an den tapferen Ami, der zu unserem Wohle kommunistische Untermenschen in Vietnam niedermacht, an den wohltätigen Fürsten, der liebevoll sein Volk umsorgt – oder, wenn der Fürst nicht mehr da ist, an die Segnungen der Parlamentsdemokratie, in der er als Souverän regiert und den neuen (Geld-)Adel jederzeit mit einem Kreuzchen an der Ausübung seiner Vernichtungslust hindern kann. Er glaubt an Börsenkurse, deren Steigen so erfreulich ist wie der Frühlingsföhn, an eine unsichtbare Hand, die jedem sein Scherflein und seinen gerechten Lohn zukommen läßt. An einen Wettbewerb, der vom Naturschutz bis zur Ungiftigkeit von Essen und Trinken alles viel besser regelt, als das eine strenge Behörde je könnte. Er glaubt, daß der einzige Weg, die Folgen des Wachstums zu mildern, noch mehr Wachstum und die einzige Möglichkeit, bewaffnete „Konflikte“zu beenden, die Lieferung von noch mehr Waffen und zur Not deren Trägern ist. Wo es um Krieg geht, haben für den Deutschen immer schon Fakten eine herausragende Rolle gespielt: Er glaubte, daß an 30 Jahren Kontinentverwüstung der Sturz von ein paar Männlein aus ei- nem Prager Fenster schuld war, daß es keine Parteien mehr gab, sondern nur noch Deutsche, die aus allen Richtungen bedroht wurden, weshalb er den Finsterlingen mit Hurra und „Jeder Stoß ein Franzos! Jeder Schuß ein Ruß!“entgegenstürmte. (Er glaubte übrigens bis vor kurzem, daß er damals tatsächlich gesamtbegeistert in die Schützengräben sprang, und neuerdings glaubt er wieder gerne, daß er daran gar nicht schuld war.) Er glaubte an Dolchstoß, Sender Gleiwitz, die kriegsentscheidende Geheimwaffe, den Golf von Tonkin, diverse „friedliche Revolutionen“in Osteuropa, den serbischen Hufeisenplan und ethnische Säuberungen im Kosovo, irakische Massenvernichtungswaffen, russische Panzer in der Ostukraine, die tapferen Rebellen in Libyen und Syrien (und, lang ist’s her, Afghanistan), und daß sich „humanitäre“Katastrophen am besten mit Bomben lösen lassen. Das alles glaubt er wahrscheinlich deshalb, weil ihm sonst die Schuppen von den Augen fallen und er eine Welt erblickt, in der wenige viele ausbeuten und er einer der vielen ist, die sich dagegen wehren müßten. Das mag er nicht, weil es ungemütlich werden könnte, und deshalb sehnt er sich neuerdings mal wieder wohltätige Fürsten und heroische Präsidenten herbei und glaubt notfalls auch wieder, daß der Semit die Brunnen vergiftet und die Krätze verbreitet. Sollen wir ihm erklären, daß der Begriff „postfaktisch“2004 zur Bezeichnung der Lügen und Propagandairngespinste geprägt wurde, mit denen die „Koalition der Willigen“und ein Massenchor von Medien den Irakkrieg herbeibeteten? Daß den Begriff also genau die, auf die er damals gemünzt war, jenen entgegenschmeißen, die ihnen nicht mehr hinterhermarschieren mögen? Er wird es uns nicht glauben, denn das wäre kein Fakt, sondern: eine Tatsache.