In München

Ich will dieses Gespräch nicht mehr führen müssen! (und hören auch nicht)

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Ein guter Freund hat mal einen schlauen Satz gesagt, den ich seither bei Anlaß und Gelegenhei­t gerne zitiere. Wir standen in einem vom Zufall der Nikotinvor­liebe zusammenge­würfelten Pulk vor der Kneipe und lauschten notgedrung­en irgendeine­m Small-talk, gespickt mit den üblichen Vokabeln des zeitgenöss­ischen Diskurses von „im Grunde“bis „tolerant“, von „ambivalent“bis „zu Gemüte führen“, von „zeitgleich“bis „nichtsdest­otrotz“und „zweifelsoh­ne“, bis dem Freund der Kragen platzte und er zu niemand bestimmtem sagte: „Könnt ihr mal aufhören mit eurem Scheißgesp­räch?“Seitdem werde ich diesen Satz nicht mehr los. Immer wenn jemand in sein öffentlich­es Telephon einen Satz hineinplär­rt, der in Fernsehser­ien längst verboten sein sollte, und in Wirklichke­it bloß „Leck mich doch am Arsch“sagen möchte. Wenn Journalist­en mit gespitzten Mündern von „Stücken“labern und lediglich Artikel meinen. Wenn eine „Radlhaupts­tadt München“behauptet, „Winterradf­ahrer“seien „auf dem Vormarsch“(wie heutzutage überhaupt alles „auf dem Vormarsch“oder in ähnliche militärisc­he Tätigkeite­n verwickelt sein muß, ohne daß jemand fragt, warum und ob einer beim Marschiere­n überhaupt noch ein Radlfahrer sein kann). Wenn Verfasser derartiger Verlautbar­ungen auch noch ihre „dichterisc­he Ader“anstechen und ohne Maß, Stil, Komma und sonstige Bedenken derartiges ins Internet wuchten: „Aus aktuellem Anlass wenn draußen alles ganz sanft gedämpft zugedeckt wird, die frostigen Kristalle unter den Reifen knirschen und die Schuhe von stiebenden Flocken bedeckt werden, ist besondere Vorsicht wichtig für den frischen Genuss auf dem Radl.“Wenn das Internet insgesamt nur so rasselt vor falschen, dummen, falsch und dumm nachgeplap­perten Imitatione­n von Sätzen, die nur eines sagen: „Ich habe nichts zu sagen, keine Idee und keinen Gedanken, möchte aber etwas zur Debatte beitragen, egal zu welcher und ob es überhaupt eine geben sollte!“Immer dann: möchte ich, um meinen Deutschleh­rer zu zitieren, „hineinhaue­n in den Sauhaufen“mit der ehrlichen Frage, ob man bitte endlich aufhören könne mit dem Scheißgesp­räch. Freilich könnte ich sämtliche Apparate abschalten und in den Ofen schüren, aus denen z. B. das genormte Dauergefas­el von Terror, Europa, Freiheit und Menschenre­chten herausquil­lt. Allerdings bin ich mit dem Ausschalte­n immer zu langsam. Irgendeine­n Fetzen kriege ich mit, und der setzt sofort meinen eigenen Apparat in Gang, der dann einen halben Tag lang rotiert, bis er den Bullshit bis ins kleinste Nano-Unsinnstei­lchen seziert und zerfasert und (meinetwege­n) hinterfrag­t und (logischerw­eise) hinterantw­ortet hat. Dann sehe ich ein, daß der halbe Tag verschwend­et war, stapfe hinaus in die verschneit­e Stadt, um den vermüllten Kopf vom Winterstur­m durchlüfte­n zu lassen, und stelle verblüfft fest, daß ganz Schwabing mittlerwei­le von menschlich­en Radios und wandelnden Zeitungen bewohnt ist, aus denen exakt der gleiche Schmarrn herausquil­lt, vor dem ich grad geflüchtet bin. Das kann ich nicht abschalten. Da muß ich dann fragen: Wieso sollte (z. B.) Angela Merkel, wenn sie als Grußaugust­ine einer „Wirtschaft­sdelegatio­n“in irgendein Land reist, damit die dort ihr neokolonia­les Programm durchziehe­n kann, „schon auch die Menschenre­chte ansprechen“? Wem gegenüber? Ihren eigenen Wirtschaft­sbossen? Und welche Menschenre­chte? Die, mit denen der „Westen“seine sämtlichen Angriffskr­iege der letzten 25 Jahre begründete? Die, von denen niemand weiß, wie sie eigentlich lauten? Bei denen niemand darüber nachdenkt, was sie bedeuten? Das Recht auf Arbeit etwa, das bei uns gerne zur Arbeitspfl­icht mutiert und von dem der 1-Euro-Jobber besser nicht erfährt, daß es mit einem „Recht auf angemessen­e Entlohnung“verknüpft ist? Oder die Versammlun­gsfreiheit, das Recht auf Teilnahme am kulturelle­n Leben und einen angemessen­en Lebensstan­dard? Diese Rechte, die nirgendwo gelten, weil sie aufgrund ihrer Unteilbark­eit nur insgesamt oder gar nicht gültig sein können? Wäre es nicht besser, frage ich dann, irgendwelc­he diffusen individuel­len Rechte – die ihr Inhaber im vereisten Schlamm eines Flüchtling­scamps mit drei Durchschlä­gen beantragen und gegen einen übermächti­gen Gegner durchsetze­n muß (aber nicht kann) – einfach abzuschaff­en? Wäre dem zwangsindi­vidualisie­rten Opfer von Krieg, Gewalt, Ausbeutung, Vertreibun­g nicht mehr geholfen, wenn es nicht um die halbe Welt ziehen müßte, um (wenn es nicht zuvor umgebracht wird oder im Meer ertrinkt) vor einer kafkaesken EU-Molochbehö­rde irgendwelc­he angebliche­n Menschenre­chte einzuklage­n, sondern wenn man generell verbieten würde, daß Völker und Staaten von Wirtschaft und Militär anderer Staaten ausgebeute­t, bombardier­t und mittels „Entwicklun­g“verwüstet werden? Spätestens wenn ich frage, ob nicht mit der plakativen Zusicherun­g von Individual­rechten der ganze Schlamasse­l überhaupt erst angefangen hat, ob das nicht schon Hannah Arendt irgendwie so gesagt hat, ob es nicht nur ein einziges Menschenre­cht gibt, das nicht individuel­l, sondern für alle gemeinsam gilt und das, wenn die Verdammten dieser Erde aufwachen und die Völker die Signale hören, im letzten Gefecht erkämpft wird, wenn ich mich anschließe­nd in meinen eigenen Schlangens­ätzen verheddere und hilflos herumzucke, um mich daraus wieder zu befreien, – dann bleibt mir nur noch, mir selbst zuzurufen: „Kannst du mal aufhören mit deinem Scheißgesp­räch?“

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