BELÄSTIGUNGEN
Daß der Mensch des Menschen Wolf sei, ist eine Binsenweisheit, die durch Wiederholung nicht wahrer wird. Schließlich ist der Wolf ein höchst soziales Wesen, das nie auf die Idee käme, seine Rudelgenossen mit Verelendungsmaßnahmen wie Hartz IV zu schikanieren, um sich selbst eine fettere Wampe anfressen zu können. Gemeint ist der im Märchen herumlungernde Böse Wolf, bei dem aufgrund seiner maßlosen Gier mit Sofortverschlingung zu rechnen ist, und zwar dermaßen sofort, daß einen ein gütiger Jäger unverdaut, fit und fidel aus der Wolfsplautze wieder herausschneiden kann. Zum Bösen Wolf im Märchensinn wird der Mensch erst wenn er zum Nachbarn wird. Dann geht es ihm meist nicht darum, den vernachbarten Mitmenschen zu verschlingen. Vielmehr soll dieser durch Piesackung und Schikane zur Abwanderung aus dem Revier bewegt werden. Und hier versagt der Vergleich, weil das klassisch wölfische Wegbeißen dem Menschen aufgrund von Knebelgesetzen und Karies verwehrt ist. Dafür hat er eine Erfindungsgabe. So baut er sich atomar betriebene Haushaltsgeräte, mit denen sich jahrhundertalte Ziegelbauten zum Vibrieren bringen lassen, zu schweigen von modernen Betonschachteln, in denen unter dem massierten Ansturm der Smoothie-Püriermaschinen kein Steinbrösel auf dem anderen bliebe, wenn man sie nicht durch Einbringung von Spannstahl und Kunststoffgewebe so stabil machte, daß ein anderer Märchenwolf mit Monsterturbinenlungen chancenlos wäre. Dazu baut er sich Werkzeuge, um Nägel und Schrauben in Wände und Decken zu donnern, Löcher in Mauern zu sprengen, Böden aufzubrechen, Stahl und Hartholz zu fräsen, schreddern und schmirgeln, Laub, Dreck und pulverisierte Hundescheiße wolkenweise durch Straßenschluchten zu blasen. Und er montiert sich an seine Raskiste einen „Sportausten puff“, mit dem sich ganze Stadtviertel zum Nervenkrebs terrorisieren und durch punktuellen Einsatz gezielt Infarkte herbeiführen lassen, gerne beim Losbrettern an Ampeln, um das Kinder- und Seniorengewürm von der Piste zu scheuchen und dem Kreuzungsnachbarn klarzumachen, daß der Verzicht aufs Blinken kein Versehen ist, sondern eine röhrende Klarstellung der sozialen Rangordnung. Wer Lärm, Gestank und anderen Radau nicht so gut verträgt, überzieht den Beiwohner mit jahrzehntelangen Gerichtsverfahren wegen Millimetern, Mikrodezibeln, Sekunden, Pfennigbruchteilen und Affären aus der vorletzten Nachkriegszeit, wechselt Schlösser, verhängt Fenster, verstreut Scherben, sägt Rohre an, vergiftet Bäume und Hausgetier, gießt Wasser aus Fenstern, ruft die Polizei vorbei und scheißt notfalls in die Dachrinne. Weshalb der Deutsche ganz besonders anfällig dafür ist, bleibt ungeklärt. Möglicherweise deshalb fürchtet er den Wolf, der in ihm lauert und in nachbarschaftlicher Tobsucht hervorbricht, ganz besonders: weil er unterbewußt weiß, daß er am meisten Angst vor sich selber haben sollte. Mit dem Wolf kann er sich gewissensrein wähnen: schließlich kommt der nicht aus seinem verkorksten Seelenpfuhl, sondern aus dem tiefen Wald im Osten. Thomas Hobbes bezieht den Wolf, der der Mensch dem Menschen ist, ausdrücklich nicht aufs Private, sondern auf die zwischenstaatliche Gewalthuberei, bei der man „Gerechtigkeit, Liebe und alle Tugenden des Friedens der Ähnlichkeit mit Gott“über Bord wirft und „selbst die Guten bei der Verdorbenheit der Schlechten ihres Schutzes wegen die kriegerischen Tugenden, die Gewalt und die List, d. h. die Raubsucht der wilden Tiere, zu Hilfe nehmen“müssen. Möglicherweise hatte Herr Hobbes keine Nachbarn. Wahr bleibt seine Annahme, was das böswölfische Gehabe von Staa- untereinander betrifft. Das zeigt sich derzeit in der von mächtigen Instanzen herbeigeplapperten Debatte über einen „Cyberkrieg“, mit dem das durch zielstrebige NATO-Erweiterung zum Nachbarn gewordene Rußland den Westen in die Knie zwingen möchte, durch „Fake News“und Hacking. Weshalb man sich unbedingt verteidigen müsse. Das klingt zunächst logisch. Wenn einem jemand einen üblen Virus auf die Festplatte pumpt, ist es vorteilhaft, selbigen unschädlich machen zu können. Der staatsdeutsche Wolf möchte aber, der archaischen Kriegslogik treu unterworfen, mehr. Nämlich durch „Backhacking“dem Übeltäter selbst einen Virus auf die Platte pumpen, gegen den der sich wieder schützen muß, indem er einen noch übleren Virus zurückschießt. Usw.; wir kennen das aus dem alten Kalten Krieg: Haust du mir eine Bombe drauf, hau ich dir zwei drauf; im Zweifelsfall haue ich dir die zwei Bomben drauf, bevor du mir deine Bombe draufhauen kannst. Leider weiß man bei „Cyberangriffen“nie so genau, von wem sie wirklich kommen. Möglicherweise entpuppt sich der böse Russe bei genauerem Hinsehen als neurotischer Nerd im tiefen Schwarzwald, der für seine Hackereien den Server einer Notfallklinik nutzt. Im Vorwärtsverteidigungsfall müßte man entweder die Klinik logistisch in Klump und Asche backhacken oder den Russen so massiv mit Viren vollpumpen, daß er nicht mehr dazu kommt, mit „Fake News“und Verschwörungstheorien seine Unschuld zu behaupten. So oder so: wünscht man sich endlich einen gütigen Jäger herbei, der mit Kuchen und Wein nach Osten aufbricht, um dem vermeintlichen Raubtier klarzumachen, daß man das ganze Theater als Privatmensch hier wie dort nicht böse meint und daß man sich doch zusammentun könnte, um dem Hobbeschen Staatenwolf und seiner Raubkriegssucht endlich Halsband und Leine anzulegen.