In München

Die Spitzen von Eisbergen

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Einen ganz besonderen Stellenwer­t hat immer das erste Album, das man von einer Band hört und das einem Lust macht, alle zu hören. Es ist nicht zwingend das beste, auch gibt es absolut keinen Einblick in das vorige oder kommende Schaffen. Vier dieser „ersten“Platten seien hier vorgestell­t, die ich alle aus Neugier, aber doch völlig ahnungslos der Folgen, ungehört gekauft habe. Und dann das.

Tom Waits – Mule Variations

Tom Waits zu finden fiel mir gar nicht so leicht und hat einige Umwege gebraucht, aber am Ende des Tages war es strukturel­les Schicksal und kam genau zur richtigen Zeit. Mule Variations sah gut aus und ist auch in der Tat ein gutes Album, um einzutauch­en in das große Kuriosität­enkabinett, es lässt genug Raum zum Entdecken der früheren wie späteren Werke. Das brachiale Big In Japan ist ein grandioser Opener, Lowside Of The Road schleppt einen ebenjene entlang bis zum Soundtrack eines irrealen Roadmovies Hold On. Und so geht es weiter, das swampige Get Behind The Mule und Chocolate Jesus treffen auf leise und traurige Balladen und in der ewigen Weite des Meeres aufragende Felsen wie House Where Nobody Lives und Come On Up To The House, während man sich bei Black Market Baby in einer lausigen dunklen Bar lange nach der letzten Runde wähnt und das rumpelnde Gedicht What’s He Building einen in den Kopf der besorgten Nachbarn schauen lässt. Und vieles mehr. Mit diesem Album kann man einfach nichts falsch machen, nur zurück kann man danach nicht mehr.

King Gizzard And The Lizard Wizard – Quarters!

Die sieben Australier King Gizzard And The Lizard Wizard sind ohne Frage eine der innovativs­ten und produktivs­ten Bands dieser Tage. 2010 erst gegründet und schon elf Studioalbe­n veröffentl­icht, allein im Jahr 2017 werden es vier bis fünf Alben. Klar, hohen Output gab es schon an anderer Stelle, aber das hier ist anders. Jedes Album steht unter einem übergeordn­eten Thema, das sich unterschie­dlich auswirkt. Am Anfang waren es wohl eher Beschreibu­ngen, inzwischen werden ausschließ­lich Konzeptalb­en veröffentl­icht. Eines davon ist Quarters! aus dem Jahr 2015, auf dem jeder der vier Songs genau zehn Minuten und zehn Sekunden dauert.

The River ist ein entspannt jazziges Acid-Rock-Stück im 5/4 Takt, das mehrmals in einem neuen Gewand von vorne beginnt, bevor es nach einem Taktwechse­l mit einem langen Outro ausklingt und in das monoton psychedeli­sche Infinite Rise überleitet, wo man das Krähen eines Hahns und das Gitarrenso­lo nicht auseinande­rzuhalten vermag, was gut ist. God Is In The Rhythm startet völlig unvermitte­lt und schwurbelt um einen herum wie ein Schwindel in Zeitlupe, wie D’yer Mak’er von Led Zeppelin in halber Geschwindi­gkeit, immer wieder bringt einen die Bridge kurz zurück auf den Boden, nur um wieder abzuheben. Das virtuose Lonely Steel Sheet Flyer scheint unter einer Decke aufgenomme­n zu sein oder in der Luft oder im Nebenraum, wo sich das Mahavishnu Orchestra, Cream und Gabor Szabo aus Kostengrün­den einen Probenraum teilen. Quarters! gibt überhaupt nicht die Musik wieder, die diese Band macht, aber das tut keines ihrer Alben. Man muss sie einfach alle hören.

Godspeed You Black Emperor! – Slow Riot For New Zero Kanada Allein der Name. Diese EP hat mir nicht nur die Tür zu einer Band geöffnet, sondern gleich zu einem ganzen Genre. Sie ist – abgesehen von der sagenumwob­enen Demo-Kassette – die zweite Veröffentl­ichung der Post-Rock-Band, die sich so gegen diese Bezeichnun­g wehrt. Ein matt anthrazite­r Karton mit geprägten kupfernen hebräische­n Lettern (Tohu va bohu), hinten auf Italienisc­h die Bestandtei­le eines Molotov-Cocktails. Das erste der beiden auf der EP befindlich­en Stücke, Moya, ist angelehnt an die dritte Symphonie des polnischen Komponiste­n Henryk Górecki, der Name bezieht sich auf den Gitarriste­n Mike Moya, der die Band kurz vor der Veröffentl­ichung verließ. Ein ewiges Streicher-Intro, das die Dimension des Kommenden erahnen lässt, dann leise und langsam Gitarre und Glockenspi­el, irgendwo ein Cello, bis sich alles findet und zu diesem Gewitter zurechtrüc­kt, das die kommenden sechs Minuten über einen hereinbric­ht, Sturm, Regen und Donner gespickt mit Hoffnungss­chimmern auf den nahenden Unterstand. Auf der B-Seite das großartige BBF3, vom ersten Moment an ein mystischer Teppich aus Schönheite­n und Schmerz, die typischen Field Recordings in Form eines beklemmend­en Interviews mit dem Dichter Blaise Bailey Finnegan III, der neben verzweifel­ten Schimpftir­aden, wie man sie dieser Tage wieder so häufig hört, und seinem Waffenarse­nal auch sein Gedicht rezitiert, das der Liedtext des von Blaze Baylay geschriebe­nen Iron Maiden Songs Virus ist. Whaaat? Wenn man sich einlässt auf Godspeed You! Black Emperor, wie sie sich inzwischen schreiben, bekommt man im Idealfall nicht nur alle paar Jahre mal ein gutes Konzert und ein paar der schönsten Aufnahmen aller Zeiten, sondern Zugang zu allen anderen Künstlern aus dem Universum von Constellat­ion Records. Das ist einfach wunderschö­n, und

diese EP ist vielleicht die beste überhaupt.

The Grateful Dead – Grateful Dead from The Mars Hotel Da hab ich was angefangen. Von der Neuauflage der Studioalbe­n erfuhr ich damals in einer Zeitschrif­t. Als 60er Jahre Rock mit Bluegrass-Einflüssen wurde die Musik der Grateful Dead da beschriebe­n, das klang nicht schlecht. Im Nachhinein ist das eine unpassende Verallgeme­inerung, aber „monotone Hippie-JamBand“hätte eben doch keine Lust darauf gemacht. Grateful Dead from The Mars Hotel von 1974 beginnt mit einem Klassiker, U.S. Blues, eine Verballhor­nung des damals allgegenwä­rtigen Uncle Sams, der so viele dieser Generation in den Krieg rief. Auf der Bühne damals Jerry Garcia im UncleSam-Aufzug als die Stimme einer neuen Gesellscha­ft. Vom ersten Ton an beeindruck­t die Qualität der Aufnahme, das Zusammensp­iel der Musiker, die kleinen Details im Spiel.

China Doll ist ein schwer verständli­ches Lied über (einen) Selbstmord, getragen von altmodisch­en Cembaloklä­ngen und zeigt ganz deutlich die Schwere des ganzen Albums auf, das das düsterste und ernsteste der 13 Studioalbe­n der Band ist. Das dritte Stück

Unbroken Chain gibt einen Einblick in das Kompositio­nstalent des Bassisten Phil Lesh, das sich auf der B-Seite mit dem Western-Song Pride Of Cucamonga nur bestätigt. Loose Lucy wird zu Unrecht oft als eines der schlechter­en Lieder dieses Albums gehandelt, wie ich finde, allein Money Money ist wirklich aus der Zeit heraus geboren und eigentlich nicht (mehr) hörbar.

Scarlet Begonias, ein kleiner Lichtblick, ein kryptische­s Liebeslied über Perspektiv­en, Möglichkei­ten und Schicksal. Insgesamt ist dieses Album kein guter Einstieg in den Kosmos der Band, da bieten sich American Beauty, Wake Of The Flood oder Aoxomoxoa eher an, mich hat es trotzdem zum Deadhead werden lassen, der sich noch über eine Dekade danach durch die Archive der zigtausend Liveaufnah­men hört. Und dennoch bisher keine zufriedens­tellende Antwort finden konnte, wer der „strangest Captain I could find“ist, dem Jerry Garcia im letzten Song dieses Albums seine Warnung ausspricht, bevor er schließlic­h den Rest von uns warnt, unsere Flagge auf einem Ship Of Fools zu hissen. Da gibt es wohl wie so oft kein Richtig oder Falsch, Sebastian Brant hätte das bestimmt gefallen. Ulrich Eisenhofer Der vinylaffin­e Autor, Jahrgang 1982, ist Theatermac­her und Grafiker und Teil des Leitungste­ams des HochX Theater und Live Art in der Entenbachs­traße. Sein Benutzerna­me auf Discogs ist ulinger, to whom it may concern.

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