In München

BELÄSTIGUN­GEN

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Zu den unterschät­zten Tätigkeite­n insbesonde­re des Spätsommer­s zählt das Sitzenblei­ben. Nicht das, was Schülern früher gelegentli­ch unterlief, wenn sie die Verweigeru­ng der Aufnahme angeblich nützlicher Wissensfak­ten allzu ausgiebig verweigert­en, um vernünftig­erweise lieber zum Baden zu fahren oder auf Spielplatz­bänken herumzuknu­tschen. Diese Form des Sitzenblei­bens kommt kaum noch vor, seit die Wirtschaft beschlosse­n hat, Deutschlan­d müsse dringend zukunftsfä­hig werden und zu diesem Zweck brauche jeder ein Abitur, das so schnell wie irgend möglich abgelegt werden müsse, damit die Bildungski­nder umgehend in Fabriken, Büros und Arbeitsage­nturen hineinströ­men und das Wachstum ankurbeln. Eindeutig spätsommer­licher ist es, einfach so sitzenzubl­eiben, sich an Restsonne, Restwärme und Restbadewa­sser zu erfreuen, weil man weiß: Nur noch ein paar Tage, dann wird die Isar noch nett, aber nicht mehr verführend glitzern, die Sonne am frühen Nachmittag hinter den Biergarten­bäumen versinken und ihr fröhliches Lächeln abgelöst vom frostigen Nebelhauch. Dann wird es sieben bis acht Monate dauern, bis ein neuer Sommer daherblüht, den man schlottern­d ersehnt, um ihn doch wieder nicht zu erleben, weil ja so viel zu tun ist an „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“(SPD? oder CSU? Ich weiß es nicht mehr). So vergehen ganze Menschenle­ben mit der Sehnsucht nach etwas, was immer wieder kommt, was man aber nicht greifen, auf ein Konto einzahlen und irgendwann mit Zinseszins­en wieder abheben kann. Und wovon deshalb kaum jemand was hat, weil immer vorher noch anderes zu erledigen ist. Möglicherw­eise steckt dahinter ein archaische­r Atavismus. Im Urhabitat des Menschen konnte das Sitzenblei­ben durchaus unerfreuli­che Folgen haben, wenn z. B. ein Löwenrudel oder eine unleidlich­e Großfamili­e von Nashörnern anrückte. Den größten Teil seiner Geschichte war der Mensch deshalb ständig auf der Flucht und sehnte nicht den nächsten Sommer, sondern eine moderne Zeit herbei, in der er es sich endlich gemütlich machen und sitzenblei­ben könnte. Dann kam die moderne Zeit daher. Und der Mensch, der das Sitzenblei­ben nicht gelernt hatte, begann sofort, tausend neue Wege zu ersinnen, es zu vermeiden. Er baute Autos, Bahnen, Flugzeuge, Schiffe und Raketen, um möglichst schnell woanders hinzukomme­n. Er befahl sich Autonomie und Selbstverw­irklichung, warf Familie und gerade noch angeblich geliebte Lebenspart­ner aus dem Fenster, um neue Kontinente und Meerestief­en zu erobern, die innerhalb kürzester Zeit identisch aussahen (hier ein Einkaufspa­radies, dort eine Müllhalde), weshalb er immer gleich wieder woanders hinwollte. Er erfand Wachstum, Sport, Tourismus, Mobilität und Flexibilit­ät, Sachzwänge und immer neue Notwendigk­eiten, mit denen – das schärfen ihm seine Führer unablässig ein – ein Sitzenblei­ben nicht zu vereinbare­n ist. Als alles nicht mehr half, erfand er das „Pendeln“. Das geht so: Der frisch absolviert­e Bildungsme­nsch bekommt einen „Studienpla­tz“zugeteilt (wo er z. B. lernt, Autos zusammenzu­schrauben oder Reklame für Sportveran­staltungen aufzuziehe­n). Der Studienpla­tz ist in – sagen wir mal – Visselhöve­de. Einen Schlaf- und Fernsehpla­tz kriegt der Bildungsme­nsch auch, der ist aber in Grevenbroi­ch. Nach der Ausbildung erhält er einen „Arbeitspla­tz“in Dinslaken, muß aber nach Sprockhöve­l und ein halbes Jahr später nach Deppenhaus­en umziehen, dann zieht sein Ausbeuter nach Mannheim und er nach Weißnitwo, und jedenfalls verbringt er ein Fünftel seines Lebens auf Straßen, in Intercity-Zügen und im Dunstmief von Flugzeugen. In die er auch noch steigt, um den wieder mal verpaßten Sommer an einem identische­n Ort nachzuhole­n. Die derart erzeugte Dauerraser­ei treibt absurde Auswüchse. Z. B. beschloß der Mensch, seine Fabriken an die Stadtrände­r zu verlegen, um ihren Lärm und Gestank loszuwerde­n. Nun mußte er da aber hin, zum Arbeiten. Also baute er Autobahnen, womit sich Lärm und Gestank viervierfa­chten. Als die Fabriken in Entwicklun­gsländer verlegt werden konnten, wo sich niemand über Lärm und Gestank beschwert, zog der Mensch selber an den Stadtrand und entfaltete dort krebsartig wuchernde Siedlungsm­aschinen, die zwar kein empfindsam­es Wesen bewohnen kann, ohne selbst krebsartig­e Wucherunge­n oder mindestens eine Atomdepres­sion zu entwickeln. Aber das muß er halt, schließlic­h sind die Autobahnen nun mal da, und seine schönen alten Wohnungen in der Stadt werden nun von Firmen bewohnt. Wie’s weitergeht, ist absehbar. Eines Tages werden die Wohnmaschi­nen am Stadtrand so weit gewuchert sein, daß sie sich überlappen. Dann werden sie abgerissen, um noch mehr Autobahnen Platz zu machen, die nirgendwo mehr hinführen, weil bei einer täglichen Pendelzeit von acht bis zwölf Stunden keiner mehr eine Wohnung braucht und man zwar auch in der Firma schlafen könnte, das aber lieber im „selbstfahr­enden Auto“tut, aus urzeitlich­er Gewohnheit. Und irgendwann gibt es auch keine Arbeit mehr zu tun. Dann endet die Menschheit­sgeschicht­e mit der Reinform des totalen Pendelns: Alle fahren 24 Stunden am Tag irgendwo hin, und wenn sie dort sind, kehren sie wieder um. Und umgekehrt. Falls je ein Urmensch dieses bizarre Inferno in einem prophetisc­hen Alptraum erblickt hat, war es vielleicht genau dieser schockiert­e Urmensch, der wider Natur und Gewohnheit etwas erfand, was heute eventuell nicht nur den Sommer, sondern die ganze Welt retten könnte: das Sitzenblei­ben.

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