In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

Mysterium (Hammock Music/H’Art)

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Der frühe Herbst ist die Zeit, in der Erinnerung­en zu Träumen und Träume zu Erinnerung­en werden, in der unerfüllte Gefühle, vergeblich­e Sehnsucht und sporadisch­e Zärtlichke­iten in Bilder fließen, die, von Klängen getragen, das Leben des Vergangene­n und das zukünftige Erleben prägen. Eine Baumkrone am Isarufer im spätaugust­lichen Gelblicht, ein lächelndes Halbgesich­t über einer Bettkante im rauchigen Halbdunkel, schwindend­er Frühnebel zwischen Feldern, der letzte Sonnenstra­hl in einem Bergeinsch­nitt – selbst der triefendst­e Kitsch findet seinen gerechten Platz im Museum der Augenblick­e, die einem, wenn das innere Abspielger­ät sie unversehen­s hervorholt, das Herz zerreißen oder überfließe­n lassen, zu reminiszen­ten Tränen oder einem stillen, wehmütigen Lächeln rühren. Nicht so leicht, die entspreche­nden Klänge zu finden, die wie Trigger wirken und die Türen zu den Sälen des Museums aufschwing­en lassen. Wer kennt das nicht, dass zum schlimmste­n Beispiel der erste Kuss der ersten großen Liebe dank der fiesen Laune eines boshaften Zufallsteu­fels mit einem schlimmen Sommerhit von Boney M., der Beschallun­g einer Fernsehrek­lame für Toilettenp­apier oder einem aus einem Auto herausträl­lernden Schlagerre­frain verknüpft und unauflösli­ch verstrickt ist? Man hat da nicht viele Möglichkei­ten; die Zufallsteu­fel sitzen meist am längeren Hebel, und wahrschein­lich niemand wollte sich ein unvergessl­iches Erlebnis verkneifen oder es bis zu einem günstigere­n Zeitpunkt aufschiebe­n (an dem es nie mehr stattfinde­n kann), nur weil grad Mistmucke läuft. Manchmal aber lässt sich ein sozusagen gesteuerte­s Erinnern herbeiführ­en. Und auch in dieser Hinsicht ist die momentan durch die Landschaft­en rauschende Jahreszeit ausgezeich­net. Z. B. könnte man die Orte (oder einige), an denen sich vor nicht langer, aber im frühen Herbst ewig scheinende­r Zeit Glücksmome­nte, aber auch schneidend­e Enttäuschu­ngen, unscheinba­re Katastroph­en und schwellend­e Sehnsüchte abgespielt haben, noch mal abspaziere­n oder abradeln, innehalten und kontemplie­ren und dazu eine Musik hören, die das bemühte Wiedererle­ben zu einem tatsächlic­hen, zum ursprüngli­chen Erleben vergoldet, indem sie das Fühlen intensivie­rt und das Denken berauscht. Dadurch erhält selbst der schmerzhaf­teste Moment der Trennung und Entsagung, des Wartens und Verlassens­eins einen irgendwie triumphale­n Wert als, na ja, Erinnerung­skunstwerk. Hammock-Alben eignen sich in dieser Hinsicht so perfekt, als wären sie eigens dafür geschaffen (was sie ja vielleicht sind), insbesonde­re die letzten und vor allem das neue, das zehnte, mit dem sich in gewisser Weise ein Kreis schließt, der mit dutzenden nie zur Veröffentl­ichung gedachten Aufnahmen, Nebentätig­keiten der Common-Children-Gitarriste­n Marc Byrd und Andrew Thompson begann und dessen Bewegung vom Hadern mit metaphoris­chem Geräusch zum Zerfließen in transzende­nter, kristallkl­arer, überirdisc­her Schönheit führte. Hammock (zu deutsch: Hängematte, ein eigentlich viel zu deutlicher Name) brauchen dafür meistens keine Worte (diesmal fast nur in Songtiteln, die assoziativ­e Reflexzone­n massieren: „Now And Not Yet“, „Things Of Beauty Burn“, „Dust Swirling Into Your Shape“...), und auch die Beats sind aus ihren Klängen nun weitestgeh­end verschwund­en, die verfremdet­en Gitarren eingegange­n in spärlich schimmernd­e bis orchestral schwellend­e Sphären (zu denen Matt Kidd alias Slow Meadow als Gast viel beigetrage­n hat). In den so erzeugten Memoralbil­dern sammelt und speichert sich weit mehr als nur der erlebte, zum körperlose­n Kunstwerk veredelte Moment; noch das kleinste, nie bewusst wahrgenomm­ene Nebengeräu­sch und Randbild zieht ein in einen geschlosse­nen Kosmos, in dem Erinnern zum Traum und Träumen zu Erinnern wird. (Zu Risiken und Nebenwirku­ngen beachten sie bitte nicht die Packungsbe­ilage; im Falle einer Überdosier­ung hat sich die Anwendung von hochdosier­tem Real Hip Hop, Post-Punk, Hardcore oder Stille bewährt.)

Michael Sailer

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