$U SOLLST MICH T¬TEN
2EINHARD +LEIST HAT MIT .ICK #AVE q -ERCY /N -E DEM +NSTLER EIN MYTHISCHES $ENKMAL GESETZT
„Can’t remember anything at all“, singt Nick Cave am Ende dieses über 300 Seiten starken Bandes, der nach Aussage des Künstlers „ein beängsti- gendes Husarenstück aus Cave-Songs, historischen Halbwahrheiten und herrlichen Hirngespinsten“geworden ist. Wer einem Künstler wie Reinhard Kleist vertraut, wird in der eigenen Historie völlig neue Facetten und Zusammenhänge entdecken, wie der Leser den roten Faden einer Chronologie nicht vermissen und in eine Welt ein- tauchen, in dem Werk und Person eins werden. Für seine ungewöhnlichen und preisgekrönten Biografien ist der in Berlin lebende Comickünstler bekannt: Ob in „Castro“, „Der Boxer. Die wahre Geschichte des Hertzko Haft“und „Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar“(alle Carlsen) –Kleist gelingt es mit unverwechselbarem Strich einem ohne Aneinanderreihung von Fakten und Lebenslauf die Persönlichkeiten durch markante Episoden näher zu bringen. Mit Musikern geht er noch einen Schritt weiter: in „Cash – I See Darkness“(Carlsen) verknüpfte er das Leben des „Man in Black“mit dessen Werk, lässt den Künstler in seinen eigenen Mythos eintauchen und eins werden mit den Protagonisten seiner Songs. In „Mercy On Me“geht er nun noch einen Schritt weiter und macht Nick Cave selbst zum Mörder seiner Figuren, vor denen er sich im letzten Kapitel „Higgs Boson Blues“dann auch zu verantworten hat. Hier treten sie nochmal auf, der junge Ausreißer aus „The Hammer Song“, dessen Pferd am siebten Tag verstarb und der in der Kleinstadt erschossen wird, die schöne Elisa Day, die in „Where The Wild Roses Grow“erschlagen wurde und der Todeskandidat, der in „The Mercy Seat“auf den elektrischen Stuhl vergeblich um sein Leben fleht. Natürlich darf auch Euchrid Eucrow nicht fehlen, Hauptprotagonist aus Caves Debütroman „And The Ass Saw The Angel“(dt. Ausgabe bei Heyne) und die wohl tragischste Figur des mit gequälten, geschundenen und von einem bösen Gott bestraften Gestalten bevölkerten Kosmos des australischen Musikers, Schriftstellers und Schauspielers. Der Roman nimmt wie auch die drogengeschwängerten Berliner Jahre keinen unwesentlichen Teil in dieser Grafic Novel ein, gerade hier wird Reinhard Kleists Liebe zum Detail überdeutlich und selten wurden der Exzess, das Chaos und die sowohl zerstörerische wie auch kreative Kraft dieser Stadt so deutlich zu Papier gebracht. Vier Jahre hat Kleist an „Mercy On Me“ gearbeitet und beim Treffen vor ein paar Wochen sah man einem der kreativsten europäischen Comickünstler die Erleichterung an, dass der Band und ein wunderbares, 100 Seiten umfassendes und farbig illustriertes Artbook im LPFormat (beides Carlsen) nun fertig sind. Mehrere Male hat er sich mit Nick Cave getroffen, erzählte Kleist, dem ComicFan immer wieder Seiten gezeigt, sich bestätigt oder auf der falschen Spur gefühlt, Feedback bekommen. Die Idee, keine konventionelle Biografie zu schreiben, hätte Cave gut gefallen und fürwahr sind diese Momentaufnahmen, dieser wahnwitzige Ritt durch Leben und Songs ein ganz eigenes Werk, das viele Geheimnisse birgt. Zum Schluss taucht auch noch die düsterste Figur der Pop-Mythologie auf, der Bluesmusiker Robert Johnson. Der Mann, der seine Seele dem Teufel verkauft hat, nimmt neben Cave in dessen Jaguar Platz und bittet: „Machen Sie mich unsterblich in Ihrem Lied.“(„Higgs Boson Blues“) ... auch wenn sich Nick Cave an nichts mehr erinnern kann – Reinhard Kleist hat’s getan.