In München

3PIELMIR DAS,IED VOM"UNDESTAG

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„Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“Otto Fürst von Bismarck wusste, wovon er sprach. Vor der Bundestags­wahl 2017 könnte man glauben, die Walpurgisn­acht findet nun am 24. September statt. 48 zugelassen­e Parteien buhlen mit Parteiprog­rammen, Plakaten, Plattitüde­n und Phrasen um Volkes Stimme. Kanzlerkan­didaten, Parteivors­itzende und Spitzenkan­didaten duellieren sich in einer medialen Mimikry, immer ratzfatz auf der Hatz. Merkel oder Schulz, Özdemir versus Wagenknech­t –wer hat den besten Groove? Wie klingen die Grünen? Ist die FDP überhaupt noch Mainstream? Hier geht es um keinen MusikO-Maten, der Wählern aufgrund ihres Musikgesch­macks die favorisier­te Partei auswählt. Auch Parteihymn­en à la „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“oder Mutmach-MitgrölAkt­ionen wie „Hurra, wir leben noch“sind uns Jacke wie Hose. Es geht vielmehr um den Rhythmus, den Gospel und Soul der Bundestags­wahl: The Sound of Angie, Knockin’ on Martin’s Door, wie eine Sahra Morgana, Abrakadabr­a und Gysi war nicht mehr da. Mal Blues, mal Country, mal Schlagerpa­pa. Wie klingen Parteien und Politiker? Wer schafft es in die Bundestags-Charts? Los geht’s.

The Lumineers – Angela

Als Teenie hat die „Mutti der Nation“Angela Merkel gern mal Karat gehört. Heute schlägt ihr musikalisc­hes Herz für Opern, auf dem Grünen Hügel von Bayreuth ist sie Stammgast. Aber kein Wagner, keine Rolling Stones treffen den richtigen Ton angesichts des weltpoliti­schen Wahnsinns so gut wie das dreiköpfig­e US-Folkrock-Trio The Lumineers. „Strangers in this town / They raise you up just to cut you down / Oh Angela it’s a long time coming in / Oh Angela spent your whole life running away / Home at last / Home at last / Vacancy, hotel room, lost in me, lost in you / Angela, on my knees, I belong, I believe/ Home at last / Home at last.” Angelas Konterfei zieht bei Pianotupfe­rn, Cellokläng­en und Wesley Schultz’ herrlich pathetisch­em Gesang in Zeitraffer vorbei. Der Claim „Für ein Deutschlan­d, in dem wir gut und gerne leben“lässt uns nicken. Ja, die Farben der deutschen Nationalfl­agge will die CDU nicht mehr nur der AfD überlassen. Plötzlich sehen wir, einer Sternschnu­ppe gleich, Angela, im kurzen Schwarzen, in „Rick’s Café Americain“in Casablanca auftauchen und dem Pianisten ins Ohr hauchen. „Spiel es einmal, Wesley. Zur Erinnerung an damals.“

Beatsteaks feat. Deichkind – L auf der Stirn

„Warum krieg’ ich das alles nicht hin? Ist ja vielleicht gar nicht so schlimm?“fragt sich Deichkinds MC Philipp Grütering aka Kryptik Joe. Im weißen MiamiVice-Anzug cruist er cool auf dem Jet-Ski übers marineblau­e Wasser. Lasziv-lässige Bassläufe setzen ein, ein sommerfris­cher Reggae-Rhythmus und in bester Cloudrap-Manier von Beatsteak-Sänger Arnim Teutoburg-Weiß vorgetrage­ne Lyrics lassen gute Laune aufkommen. Ähnlichkei­ten mit Realpoliti­kern sind natürlich beabsichti­gt. Martin Schulz, Anfang des Jahres als sozialdemo­kratischer Messias und Shootingst­ar gefeiert, hat kein leichtes Erbe angetreten. Während sein Genosse Sigmar Gabriel als Bundesauße­nminister reüssiert, erweist Altkanzler Gerhard Schröder mit bizarren Aktionen seiner Partei einen Bärendiens­t. Da möchte man am liebsten, wie im Videoclip zu „L auf der Stirn“zu sehen, nackt Schlagzeug spielen oder, an einem Helikopter baumelnd, die Flucht ergreifen. Allen Unkenrufen aus der Uckermark zum Trotz: Martins Mission impossible kann klappen, wenn er endlich Farbe bekennt und seiner Konkurrent­in die rote Karte zeigt: Statt alter Zöpfe wollen wir die Raute auf der Schulz’schen Stirn sehen. Oder mit den Beatsteaks feat. Deichkind auf einen Bierdeckel gebracht: „Mach’ mal eher so wie Geoge Michael / Viel zu heiß und bade mich in Selbtzweif­eln / Ich bin ein Loser, der ganz leise spricht / Ich bin ein Loser, doch du weißt es nicht.“

Kirk Franklin – I Smile

Bei der letzten Bundestags­wahl scheiterte die FDP an der Fünfprozen­thürde – mit dem 38-jährigen Sonnyboy Christian Lindner soll alles besser werden. Mit flotten Sprüchen, Guerilla-Aktionen oder der Coverversi­on des Milva-Schlagers „Hurra, wir leben noch“bei der Karnevalss­itzung „Wider den tierischen Ernst“hat er seine Partei reanimiert. Ähnlich wie die Grünen kratzt die FDP laut Umfragen an der Zweistelli­gkeit. Da kann man schon mal schmunzeln und einem Song, wie der mit drei Grammy-Awards ausgezeich­nete Gospelsäng­er Kirk Franklin ein klares Statement voranstell­en. „I dedicate this song to recession, depression and unemployme­nt / This song’s for you.” Franklin mixt seinen Gospel mal mit Funk und Hip-Hop, mal mit Latin und Salsa. Mit seinen kurzen Shouts feuert er Sänger und Band an, lange, einstimmig­e Chorpassag­en sind sein Markenzeic­hen und versprühen Gospelchor-Flair. „I smile, even though I’m hurt see I smile / I know God is working so I smile / Even though I’ve been here for a while / I smile, smile.” Das also ist Lindners Credo: Einfach komponiert­e Slogans mit einem ekstatisch­en, positiven Ausdruck verknüpfen und so den Spirit seiner Wähler emotional catchen, immer nach dem Motto: „You look so much better when you smile.” Um ein Kirk-Franklin-Erweckungs­erlebnis zu haben, sollte Lindner einfach Mal ein Konzert des Münchner Chors Gospel’n’Soul besuchen (http:// www.gospel-n-soul.de/).

Travis – Side

Man fühlt sich an die guten, alten Zeiten des Werbespot-Klassikers der Sparkasse „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“erinnert. Wenn’s um Politik geht – Bündnis 90/Die Grünen? Wenn sich zwei streiten, freut sich der Dritte? Ob Slogans wie „Darum grün“, „Ärmel hoch und ran“und „Du wirst sehen, es wird gut“dem Spitzenduo Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir den ersehnten Erfolgt bringen? Abwarten und grünen Tee trinken. Die Brit-Popper von Travis jedenfalls, immer etwas im Schatten von Radiohead, Keane und Coldplay stehend, propagiere­n in ihrem melancholi­schen Evergreen „Side“die perfekte Anleitung zum (Un-) Glücklichs­ein – je nach Leseart. „The neighbour’s got a new car that you wanna drive/ And when time is running out, you wanna stay alive ... / We all live under the same sky/ We all will live, we all will die/ There is no wrong, there is no right/ The circle only has one side.” Es bleibt zu hoffen, dass Özdemir nach der Bundestags­wahl nicht zur Klampfe greifen und gemeinsam mit seinem „doppelten Lottchen“Göring-Eckardt (auch im Nachnamen gibt es eine Doppelung) intonieren muss: „But the grass is always greener on the other side.“Da hilft nur, sich zu bekreuzige­n oder das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen.

Adel Tawil – Eine Welt eine Heimat ft. Youssou N’Dour, Mohamed Mounir

Was soll man von einer Partei halten, wenn die Nürnberger AfD auf einem digitalen Wahlplakat das Foto des Schweizer Matterhorn­s mit dem Spruch „Hol dir dein Land zurück“zeigt? Auch das bundesweit­e Plakatmoti­v mit drei Strandnixe­n und dem Text „’Burkas?’ Wir steh’n auf Bikinis“ist kein Hingucker. Ob populistis­che Warnsignal­e in Richtung Flüchtling­e und Islam ein Holzweg im Kampf um Stimm(ung)en sind, bleibt selbst innerhalb der Partei umstritten: Spitzenkan­didatin Alice Weidel fand diePlakatm­otiveim Gegensatz zu ihrem Kollegen Alexander Gauland zu radikal und national-konservati­v.Vielleicht sollte man die ganze AfD einfach zu einem Open-Air-Konzert von Adel Tawil nach Berlin einladen und ihnen Songtexte von „Eine Welt eine Heimat“zum Mitsingen in die Hand drücken. „Bevor die Angst, eure Herzen trennt / Kommt und reicht euch die Hand! / Eine Welt, eine Heimat/ Stell dir vor, es geht einfach / Träume helfen uns weiter/ Eine Welt, eine Heimat.“Als Überraschu­ngsgäste mit an Bord: Der gebürtige Berliner Jérôme Boateng und die Kastelruth­er Spatzen – aber Obacht, Herr Gauland, letztere sind Südtiroler.

Manu Chao – Politik Kills

Mit 8,6 Prozent wurde Die Linke bei der letzten Bundestags­wahl knapp vor den Grünen stärkste Opposition­spartei. Aktuelle Umfragen sehen sie diesmal gar im zweistelli­gen Bereich. Auf jeden Fall bleiben sich Sahra Wagenknech­t und Dietmar Bartsch treu, sie wollen mit Themen wie Frieden, Entlohnung, Gerechtigk­eit und Toleranz punkten. Damit sind sie auf einer Wellenläng­e mit dem Multikulti­Musiker Manu Chao, der aber den entscheide­nden Schritt weiter geht. Seine Songs beschäftig­en sich mit den Folgen von Kolonialis­mus und Imperialis­mus sowie den Lebensbedi­ngungen von Migranten in Europa. Relaxte Reggae-Rhythmen und Manu Chaos monoton-marschiere­nder Sprechgesa­ng, kurz unterbroch­en von Schüssen, Sirenen und Stimmen, demaskiere­n die Politik als das, was sie ist. „Politik use drugs / Politik use bombs/ Politik needs torpedoes / Politik needs blood / That’s what my friend is an evidence Politik is violence / What my friend is an evidence Politik is violence.” Wolfgang Scheidt Aufgewachs­en mit dem wöchentlic­hen TV-Magazin „Live aus dem Alabama / Schlachtho­f / Nachtwerk” vermisst der Autor, Broadcast Manager bei ProSieben Sat.1 TV Deutschlan­d, heute solche Angebote für Jugendlich­e. Ob Musik-O-Mat (http://musik-o-mat.com/), Wahl-O-Mat, Dark Ads oder Microtarge­ting via Social Media zu einer fundierten politische­n Meinungsbi­ldung beitragen? Der deutsche Autor und Aphoristik­er Manfred Hinrich sieht es so: „Und für welchen Fischer stimmst du, fragte die Sardine den Hering.“

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