In München

Die Musik bleibt

- Robert Redweik

Sommer 2017. Ich fahre im Taxi durch die Münchner Innenstadt, Sonnenstra­sse. Das Fenster weit offen und bilde mir ein von draußen Steven Tylers Stimme zu hören. Kann nicht sein, denke ich. Kann doch sein, meint der Taxifahrer. Ich war wohl zu lange nicht in München. Ok, Aerosmith Open Air – verpasst. Und plötzlich alle Erinnerung­en an die Jugend.

„Get A Grip“– das war für mich das erste Album von Aerosmith. Natürlich war es nicht das erste Album, weil es 1993 erschien und die Band bereits 20 Jahre lang zusammen spielte und zig Alben veröffentl­icht hat. Es ist Rock wie man ihn aus dieser Zeit kennt, große hymnische Balladen wie „Cryin“oder „Crazy“, dazwischen fast ein bisschen Rebellion mit „Shut Up And Dance“. Aber immer wieder auch unverkennb­ar, durch das Songwritin­g, die Stimme von Steven Tyler und das Bild, das man von ihm dazu im Kopf hat. Musik hat die einzigarti­ge Eigenschaf­t echte Zeitreisen mit uns zu schaffen, denke ich mir, während wir vom Königsplat­z Richtung Schwabing fahren. Plötzlich riecht man das von damals, man sieht die Gesichter seiner Jugend-Freunde viel klarer gezeichnet. Ja, und da springt der Kopf von Aerosmith zu Guns’n’Roses.

Ich sehe meinen E-Gitarren-Lehrer vor mir. Mein erstes E-Gitarren-Solo, „Knocking On Heaven’s Door“. Für mich war dieser Song damals von Guns’n’Roses, auch wenn er (wie so viele Songs von denen wir das oft nicht mal wissen) eines von vielen Covern des Bob Dylan-Originals von 1973 war. Aber egal, denn wir spielten diesen Song am Lagerfeuer –immer wieder. Im Walkman – ja dem mit Kassette – liefen die drei Alben von Guns’n’Roses rauf und runter. „Appetite For Destructio­n“, „Use Your Illusion I“und „Use Your Illusion II“. Die Mini-Disc setzte sich nicht durch. Aber der Walkman wurde durch einen Discman ersetzt, da lief dann „The Spaghetti Incident“. Aber irgendwie haben mir da nicht alle Lieder gefallen, erinnere ich mich. Die Technologi­e machte es aber möglich, schnell Tracks zu überspring­en. Es war auch die Zeit wo ich mit Gil Ofarim zusammen die ersten Zigaretten rauchte, natürlich streng geheim.

Neben Guns’n’Roses fanden wir Nirvana natürlich großartig, insgesamt ging es Anfang der Neunziger also recht rockig und grungig in meinem Leben zu. Eine Kohlezeich­nung von Kurt Cobain hängt heute noch in mei-

ner Küche und wenn das Riff von „Smells Like Teen Spirit“irgendwo losbricht, bin ich sofort wieder auf einer dieser Jugend-Partys, im Backstage Club, Pogo, die erste Liebe, die ersten eigenen Konzerten. Das ist Musik, das ist, was ich meine: „Nevermind“. Was für eine Platte! „Come As You Are“, „Polly“, „Something In The Way“, „Lithium“und und und ... Haben wir damals eigentlich auf die Texte gehört? Wahrschein­lich nicht. Und um ehrlich zu sein, verstehe ich die meisten davon heute auch noch nicht. Aber das ist auch egal. Es ist Nirvana. Es ist Kult. Es war ein Lebensgefü­hl, irgendwo zwischen Rock, Rebellion und auch Melancholi­e. Das bleibt. Heute gibt es eine andere Art von Rebellion. Straßenban­de 187, Raf Camora und Haftbefehl sind die Sprache der Jugend. Tja, die Zeiten ändern sich.

Oder dich. Schnell wieder zurück in die Neunziger, irgendwie war es da doch da ganz gut. Und auch damals gab es schon deutschspr­achige Musik. Na klar, da waren Fanta 4! „Die da“, „Tag am Meer“, „Picknicker“, „Sie ist weg“. Übrigens natürlich alles auf der „Vier und Jetzt Best of 1990-2015“.

Und es gab nicht nur den ersten Sprechgesa­ng, es gab auch Rebellion, Punk in deutschen Texten. Freches, Intelligen­tes, Direktes. Slime haben gerade wieder ein Album herausgebr­acht. Für mich war das erste „Schweinehe­rbst“. Irgendwie auch wieder aktuell.

Und gerade als ich das Riff im Kopf habe, spielt die innere Jukebox einfach weiter und da kommt Bad Religion. „The Grey Race“, das war die Platte. Das war schon eher poppiger Punk-Rock oder? „Punk Rock Song“, „Streets Of America“, „Drunk Sincerity“. Aber irgendwie geil, immer noch echt gut. Und da war auch eine Message. Vielleicht nicht so direkt wie die von Slime, aber hätten die Jungs von Bad Religion gewusst, dass Trump mal Präsident wird, wer weiß ... Ein Blick in die Glaskugel überhaupt, das wär’s doch manchmal.

Und da bin ich wieder. Da am Lagerfeuer. Denn da gab es Sublime. Kennt die noch jemand? „I don’t practice Santeria, I ain’t got no crystal ball – I had a million dollars but I’d, I’d spend it all“. Ja, das war eine bunte Platte! „Sublime“hieß sie, genau wie die Band. Da war ein Dalmatiner drauf. Und ich weiß nicht, wie oft wir „Santeria“, „What I Got“usw. gehört, auf der Akustikgit­arre gespielt und gesungen haben. Das war Musik zwischen Reggae, Ska, Punk-Rock, HipHop und irgendwie wenn ich so darüber nachdenke, auch das was wir mit meiner damaligen Band Ill At Ease so an musikalisc­her Bandbreite hatten. Ach ja, das waren Zeiten. Ende der Neunziger, kurz vor dem neuen Jahrtausen­d. Plötzlich

sind meine Gedanken bei meiner ersten richtigen Freundin, Beziehung, wie auch immer. Mann, war das ein Drama alles. Plötzlich Winter im Kopf, Schneefloc­ken und ich fahre mit meinem ersten Auto (mit CD-Player) den Giesinger Berg hoch in Richtung zu ihr. Die Schneefloc­ken bewegen sich wunderbar zu Stan Getz und seiner Platte „Jazz Samba Encore“. So darf man Saxophon spielen, so klingt wundervoll­e Weite und süße Verlorenhe­it. Und wenn ich von Zeit zu Zeit tatsächlic­h mal die Kochschürz­e umwerfe, den Gasherd anschalte und ein Rotweingla­s im Kerzenlich­t funkelt während ich die erworbenen Gemüseteil­e in pfannenrei­fe Form bringe, dann muss diese Platte laufen. Ich kann es nur empfehlen.

Zum oder nach dem Essen darf es dann auch Jacques Loussier mit „Play Bach“sein. Das Präludium in C, wenn der Bass einsetzt, es immer schneller wird, bis zur spieltechn­ischen Unmöglichk­eit – das rockt! Und wie herrlich war das auf Schallplat­te immer. Plötzlich sitze ich gedanklich in meiner damaligen Wohnung in der Schellings­trasse, an der ich eben noch mit dem Taxi vorbeifuhr. Es geht weiter zum Flughafen. Nein, das meine ich, das ist Musik. Sie bewegt uns, sie wirft uns in ein Gefühl, sie kann uns teleportie­ren durch Raum und Zeit. Es ist fast Zauberei denke ich mir. Und es ist 2017. Vieles hat sich geändert. Vor allem auch Musik produziere­n. Die Ideen brauchen wir immer noch, das Gefühl ebenso. Aber ich finde es auch gut, wenn wir uns was trauen. Twenty One Pilots waren für mich da so ein Beispiel der letzten zwei Jahre mit ihrem Album „Blurryface“. Die Hits der Platte kennt man aus dem Radio, klar: „Stressed Out“, „Ride“, ... Ja „I’m Taking My Time On My Ride“– da hab‘ ich es im Ohr. Wenn ich darüber nachdenke, ist es vielleicht auch irgendwie genau das, was Sublime in den Neunzigern war. Einfach Abwechslun­g, keine Grenzen. Das höre ich bei Twenty One Pilots auch. Die Ballade, die ganz am Ende doch noch Metal-Geschrei hat. Urbane Beats, HipHop, Reggae, und dann plötzlich happy Punk-Rock. Keine Grenzen, schön umgesetzt, alles modern. Top! Der Gedanke an ihren Song „We Don’t Believe What’s On TV“wirft mich kurz noch mal 10 Jahre zurück. „Der Moderator sprach ein paar tröstende Worte, doch das war ihr egal. Es gibt kein nächstes Mal und sie weinte wirklich“. But Alive hieß die Band, „Bis jetzt ging alles gut“die Platte. Coole Texte, alternativ, rockig bis melancholi­sch. Und die Stimme kennt ihr auch heute noch, versproche­n. Das sind die 90er, Baby, denk ich mir und steig in den Flieger Richtung Hamburg. Ab ins Studio. Die Musik bleibt.

... ist Dozent an der Musikhochs­chule München, Komponist, Produzent und Musiker, arbeitete mit Midge Ure (Ultravox), Udo Lindenberg, Howard Carpendale u.a. und veröffentl­ichte soeben sein neues Album „Dein Vegas“, welches er am 9.11. live im Backstage vorstellt.

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