Menschen, die an Büchern riechen
Die Villa Stuck zeigt Hisako Inoues „Bibliothek der Gerüche“
Ganz zum Schluss zieht man die Schuhe aus und steigt in eine Art überdimensionale Schuhschachtel, in der man aufrecht stehen kann. Auf dem Boden, an den Wänden, an der Decke liegt und klebt Papier, das ausgedient hat. Seiten aus Zeitungen und Magazinen. Zerknüllt, zerknickt, zerlesen. Man befindet sich quasi in einer Art Papiercontainer mit Blick nach draußen. Man kann zwar stehen, soll sich aber setzen, zur Ruhe kommen und riechen. Pappe, Kleber, Druckerschwärze, Holz ... Stimmt, so riecht frisches altes Papier. Wie wirklich altes Papier riecht, hat man zu diesem Zeitpunkt bereits erforscht. Wir befinden uns in den historischen Räumen der Villa Stuck und schnuppern uns durch die multisensorische Ausstellung „Die Bibliothek der Gerüche“von Hisako Inoue (geb. 1974). Sieben Räume hat die japanische Künstlerin gestaltet, und es schadet nicht, wenn man sie der Reihe nach erlebt. Erstes Zimmer: Antiquarische Bücher in einer Vitrine, die deutliche Gebrauchsspuren tragen. Man kann Flecken erkennen, zwischen den Seiten gepresste Blumen oder Löcher, die der Bücherwurm gefressen hat. Zweites Zimmer: Die Soundinstallationen des Künstlers Takuro Shibayama erforscht Verhaltensweisen und Handlungen zwischen Mensch und Buch. Drittes und viertes Zimmer: Hier wird an Büchern gerochen. An mittelalten und an sehr alten, an kleinen, großen, bunten, handgeschriebenen. Jedes einzelne liegt geschützt unter einer Glasglocke, die man anhebt, um das Buch in die Hand zu nehmen. Anfassen, blättern, zuklappen, die Seiten durch die Finger flippen lassen ... wie riecht der Einband und wie riecht es zwischen den Seiten? Nach was riecht Erich Kühns „Der Mensch. Ich.“? Nach Vanille, nach Backpulver, nach Sommer, nach Dachboden, nach Staub, nach ... Und nach was „Das neue Testament“? Getrocknete Feuchte, Moos, Plastik, Farbe, Rosen ... Gefühle formieren sich, Erinnerungen werden wach. Professionelle Vor-Riecher haben den Duft eines jeden Buches zu erfassen versucht und ihm einen Namen gegeben, „Süßigkeiten der Oma“liest man da oder „Ein zarter Traum“. Was man per wissenschaftlicher Analyse aus antiquarischen Büchern herausgerochen hat, kann man im fünften Zimmer erkunden: Hier stehen 18 Fläschchen, von Patchouli über Linalool und Galaxolid bis zu Borneol. Im vorletzten und sechsten Raum hört man dem Umschlagen von Buchseiten zu. Für Inoue ist dieses gleichmäßige Geräusch eine akustische Parallele zum Herzschlag des Menschen. Und dann geht es ab in die Schuhschachtel, um sich mit dem Ende zu beschäftigen. Gerüche sind etwas sehr persönliches und emotionales. Vielleicht sind wir deshalb ständig dabei, sie zu vertuschen oder zu vermeiden, in privaten wie öffentlichen Räumen, mit Deos oder Duftzerstäubern. In Japan ist die Geruchsbekämpfung besonders stark ausgeprägt. Neben Luftreinigern in Kinos werden in den meisten Bibliotheken Reinigungsmaschinen eingesetzt, die die Bücher nicht nur reinigen und desinfizieren, sondern zusätzlich noch desodorieren. Wie schön ist es da, sich die Zeit zu nehmen und an alten Büchern zu riechen. Bevor die Digitalisierung alles einebnet.