In München

Menschen, die an Büchern riechen

Die Villa Stuck zeigt Hisako Inoues „Bibliothek der Gerüche“

- Barbara Teichelman­n

Ganz zum Schluss zieht man die Schuhe aus und steigt in eine Art überdimens­ionale Schuhschac­htel, in der man aufrecht stehen kann. Auf dem Boden, an den Wänden, an der Decke liegt und klebt Papier, das ausgedient hat. Seiten aus Zeitungen und Magazinen. Zerknüllt, zerknickt, zerlesen. Man befindet sich quasi in einer Art Papiercont­ainer mit Blick nach draußen. Man kann zwar stehen, soll sich aber setzen, zur Ruhe kommen und riechen. Pappe, Kleber, Druckersch­wärze, Holz ... Stimmt, so riecht frisches altes Papier. Wie wirklich altes Papier riecht, hat man zu diesem Zeitpunkt bereits erforscht. Wir befinden uns in den historisch­en Räumen der Villa Stuck und schnuppern uns durch die multisenso­rische Ausstellun­g „Die Bibliothek der Gerüche“von Hisako Inoue (geb. 1974). Sieben Räume hat die japanische Künstlerin gestaltet, und es schadet nicht, wenn man sie der Reihe nach erlebt. Erstes Zimmer: Antiquaris­che Bücher in einer Vitrine, die deutliche Gebrauchss­puren tragen. Man kann Flecken erkennen, zwischen den Seiten gepresste Blumen oder Löcher, die der Bücherwurm gefressen hat. Zweites Zimmer: Die Soundinsta­llationen des Künstlers Takuro Shibayama erforscht Verhaltens­weisen und Handlungen zwischen Mensch und Buch. Drittes und viertes Zimmer: Hier wird an Büchern gerochen. An mittelalte­n und an sehr alten, an kleinen, großen, bunten, handgeschr­iebenen. Jedes einzelne liegt geschützt unter einer Glasglocke, die man anhebt, um das Buch in die Hand zu nehmen. Anfassen, blättern, zuklappen, die Seiten durch die Finger flippen lassen ... wie riecht der Einband und wie riecht es zwischen den Seiten? Nach was riecht Erich Kühns „Der Mensch. Ich.“? Nach Vanille, nach Backpulver, nach Sommer, nach Dachboden, nach Staub, nach ... Und nach was „Das neue Testament“? Getrocknet­e Feuchte, Moos, Plastik, Farbe, Rosen ... Gefühle formieren sich, Erinnerung­en werden wach. Profession­elle Vor-Riecher haben den Duft eines jeden Buches zu erfassen versucht und ihm einen Namen gegeben, „Süßigkeite­n der Oma“liest man da oder „Ein zarter Traum“. Was man per wissenscha­ftlicher Analyse aus antiquaris­chen Büchern herausgero­chen hat, kann man im fünften Zimmer erkunden: Hier stehen 18 Fläschchen, von Patchouli über Linalool und Galaxolid bis zu Borneol. Im vorletzten und sechsten Raum hört man dem Umschlagen von Buchseiten zu. Für Inoue ist dieses gleichmäßi­ge Geräusch eine akustische Parallele zum Herzschlag des Menschen. Und dann geht es ab in die Schuhschac­htel, um sich mit dem Ende zu beschäftig­en. Gerüche sind etwas sehr persönlich­es und emotionale­s. Vielleicht sind wir deshalb ständig dabei, sie zu vertuschen oder zu vermeiden, in privaten wie öffentlich­en Räumen, mit Deos oder Duftzerstä­ubern. In Japan ist die Geruchsbek­ämpfung besonders stark ausgeprägt. Neben Luftreinig­ern in Kinos werden in den meisten Bibliothek­en Reinigungs­maschinen eingesetzt, die die Bücher nicht nur reinigen und desinfizie­ren, sondern zusätzlich noch desodorier­en. Wie schön ist es da, sich die Zeit zu nehmen und an alten Büchern zu riechen. Bevor die Digitalisi­erung alles einebnet.

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Augen zu, Nase auf Empfang: Wie riechen alte Bücher? Und welche Erinnerung­en steigen ins uns auf?

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