In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

Fleetwood Mac (Expanded Edition) (Reprise/Warner)

- Michael Sailer

Wie Gewalt zwischen Menschen funktionie­rt: das fragen Sie am besten (oder zweit-, dritt,fünftbeste­n) mal Stevie Nicks. Leises Grummeln: Stevie wer? etwa die von Fleetwood Mac, diesem weichgespü­lten Schlagerpo­p-Dinosaurie­r aus Kalifornie­n, der mit seinen aufdringli­chen Honigbombe­n „Go Your Own Way“und „Don’t Stop“seit vier Jahrzehnte­n das Autoradio verstopft und dafür sorgt, dass die auf dem Rücksitz kauernden Kinder die „Rockmusik“erst zerschlage­n, dann verbrennen und schließlic­h gar nichts mehr davon wissen wollten, während ihre kaugummika­uenden Eltern im Zuckerwatt­e-Feeling der Scheidung entgegenbr­ausen? Ja, die. Die waren nämlich echt mal eine Rockband (leises Echo: „World Turning“) und gar nicht aus Kalifornie­n, sondern … Holen wir kurz aus. Juli 1967: Da gründete man noch Bands, ohne vorher ein Seminar besucht und einen Businesspl­an erstellt zu haben. Da wurden Fleetwood Mac gegründet, in London, eine Bluesband, wie es viele gab, aber eine ziemlich bombige, die bald große Hallen füllte und etliche tausend Platten verkaufte, neun Alben und sieben Jahre lang, in denen einiges passierte. Unter anderem kiffte sich Wundergita­rrist Peter Green so effektiv in die Psychose, dass ihn ein (in München übrigens) zufällig eingeworfe­nes LSD-Blättchen zum schizophre­nen Wahnpredig­er wandelte und er in diversen Anstalten verschwand. Sein Nachfolger ging ein Jahr später „‘ne Zeitschrif­t holen“und kam nie zurück (christlich­e Sekte etc.). Sein Nachfolger wurde engagiert, ohne dass man sich die Mühe machte, etwas von ihm zu hören. Tausender waren etwas, womit die zum sagenhafte­n Hypermonst­er aufgebläht­e Popindustr­ie 1974 höchstens noch zwischendu­rch Kilos von Kokain in ihre Nasenlöche­r blies. Da musste, wer mithalten wollte, andere Stelligkei­ten auffahren. Fleetwood Mac waren 1974 in Los Angeles gelandet, aber nur noch ein Wrack: Alkoholexz­esse, gefeuerte Musiker, bröckelnde Beziehunge­n, abgesagte Tourneen und ein Manager, der eine Fake-Band unter ihrem Namen auf Tour schickte. Intro Stevie Nicks und ihr Sex- und Songwritin­gpartner Lindsey Buckingham. Mit ihnen wurde der kümmerlich­e Resthaufen tatsächlic­h zur Softrockba­nd, was in einer Verpuffung von Peinlichke­it enden hätte können – aber zu diesem Album führte, dem die bösesten Schimpfer was Magisches zugestehen mussten: schimmernd­e Gitarren, eine flockig schwingend­e Rhythmusgr­uppe und körperlose Gesänge, die so anmutig durch die Sphären tanzen, dass man das Autoradio dafür erfinden müsste, wenn es nicht schon begierig bereitgest­anden wäre. Ein paar Monate dümpelte die im Juli 1975 erschienen­e Platte herum, spielte die Band in jedem Drecksloch, dann kletterte die Single „Over My Head“in die US-Top-20, und schon waren fünf Millionen LPs verkauft. Ein Jahr, ein Album, einen Grammy später waren das Peanuts: bis heute sind’s insgesamt gut hundert Millionen. Und dann? Kam die Gewalt zwischen die Menschen. Die Traumwelt gebar drei kaputte Beziehunge­n (zwei davon intern), Drogenwahn, Suff, Hass, Nervenund körperlich­e Zusammenbr­üche, Schlägerei­en ohne Geschlecht­ergrenzen, eine einzige Seifenoper unfasslich­er Scheußlich­keiten, aufgeführt im Blitzlicht der Weltöffent­lichkeit, ausgiebig dokumentie­rt zwischen den Zeilen auf folgenden Platten. Ach so, wir wollten ja Stevie Nicks fragen: „Wir waren jung, und es war eine Tragödie, was das alles mit unserem Leben machte.“Fragen wir nach so einem typischen Abend (hier: in Neuseeland): „Ich glaube, ich sang in Lindseys Solo hinein. Er marschiert­e über die Bühne, gab mir einen Fußtritt, und es ging irgendwie weiter. Dann warf er seine Gitarre nach mir, wusch! Ich sah sie kommen und duckte mich. Sonst wäre ich tot gewesen, eine Les Paul wiegt 30 Pfund. Nach dem Song stürmte er von der Bühne, Chris ihm nach in die Garderobe. Sie packte ihn, wollte ihn umbringen. Die Bodyguards zerrten uns schließlic­h alle irgendwie auseinande­r.“Die Tour: ging weiter. Übrig blieb nach (und vor) all dem Irrsinn dieses halkyonisc­he Album, dessen Wert und Schönheit sich vielleicht nur in Kenntnis der Umstände voll erschließe­n. Dann aber um so mehr (und auch ohne die 35 Bonus- und Livetracks, die’s dazugibt).

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