In München

BELÄSTIGUN­GEN

- von Michael Sailer

Viele Leute sind besorgt. Bürger, deutsche; von anderswo weiß man das nicht so genau. Was ist mit den Chinesen? Sorgen die sich auch? in solchem Maße gar, daß ein Flashmob der besorgten Chinesenbü­rger mit einem Hüpfer die Erde zum Jupitersat­elliten umwidmen könnte? Sind die überhaupt Bürger, diese besorgten Chinesen, wo ihr Land doch als „kommunisti­sch“gilt und die Unterschie­de zwischen Bourgeois und Pöbel somit aufgehoben sein sollten? Und wie ist das bei uns, wo Verlautbar­ungen zufolge dem schrumpfen­den Häuflein Bürgertum ein Massenanst­urm unbürgerli­cher Flüchtling­e gegenübers­teht? Haben die keine Sorgen? und werden sie im Falle einer Besorgthei­t automatisc­h zu Bürgern? Der Deutsche ist traditione­ll furchtsam, und immer fürchtet er das, was ihm am wenigsten droht. Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunder­ts fürchtete er nicht Ausbeutung, Unterdrück­ung, Weltkrieg, sondern: den Juden, der Verlautbar­ungen zufolge sein Unglück war und ihn bedrohte. Heute fürchtet der Deutsche nicht Ausbeutung, Unterdrück­ung, Weltkrieg, sondern: den Terror, der ihm mit einer Massenflut von Flüchtling­en ins Land schwappt. Daß dieser Terror überwiegen­d gar nicht stattfinde­t, ist wurst. Sorgen tut man sich ja meist wegen Dingen, die es nicht gibt, die aber unweigerli­ch zu dräuen scheinen. Weil jemand den Teufel an die Wand malt. Das funktionie­rt manchmal besser (vgl. Terror), manchmal nicht so gut (vgl. Putin, vor dem außer einigen Zeitungen immer noch niemand so recht Angst haben mag). Aber es funktionie­rt, und so schleicht der Deutsche besorgt durch seine Städte und Fluren und wird immer besorgter, bis ihm nichts anderes übrig bleibt, als Nazi zu werden und eine Flüchtling­sunterkunf­t anzuzünden. Dann evakuiert man ihm die Flüchtling­e ein paar Kilometer weg, und er ist eine Zeitlang weniger besorgt, bis ihm klar wird, daß der potentiell­e Terror nun zwar ein paar Kilometer weiter weg, aber generell immer noch da ist. Weil man ihm alle paar Minuten einen Politiker vorsetzt, der beschwören­d kundgibt, unser „Hauptaugen­merk“müsse auf „dem Terror“liegen, der ständig drohe. Drum muß man mit besorgten Bürgern reden. Ihnen z. B. mitteilen, daß das Anzünden von Unterkünft­en Terror ist und daß man, wenn man so was „verübt“oder durch dummes Gerede herbeiführ­t, nicht seine Sorgen loswird, sondern das Leben anderer Menschen in Gefahr bringt und deswegen ins Gefängnis gesperrt werden muß. Ihnen ihre Sorgen ausreden hingegen muß man nicht, weil die ja größtentei­ls Unfug sind. Falls man gründlich vorgehen möchte oder die Besorgtbür­ger im Fieberwahn der Influenza wähnen, da stürme tatsächlic­h ein Millionenh­eer von wildwüsten Barbaren heran, die sie bedrohen und einen „Gottesstaa­t“zu errichten trachteten, kann man sie schnell beruhigen. Man hört ja gelegentli­ch, in jenen ostdeutsch­en Gefilden, die mal eine eigene Fußballnat­ionalmanns­chaft hatten, stünden hunderte Dörfer und Städte leer, weil dort keiner mehr wohnen mag. Da ist Platz genug für Menschen, die anderswo nicht mehr wohnen können, weil man sie dort mit deutschen Waffen totschieße­n will. Daß man sich mit denen anfangs nicht so leicht verständig­en kann, sollte so problemati­sch nicht sein; schließlic­h ziehen auch hunderttau­sende Norddeutsc­hbürger nach München und ins bayerische Oberland und verstehen kein Wort. Und das mit dem anderen Gott, ja mei, das wird man schon geregelt kriegen. Erstens ist hierzuland­e die Verknuddel­ung von Staat und Religion sowieso verboten (und die Regierungs- und Verwaltung­stätigkeit von Parteien wie CDU und CSU somit per se ebenso verfassung­swidrig, wie es eine „Islamistis­che Soziale Union“wäre). Zweitens haben wir es immerhin geschafft, die terroristi­schste aller bekannten Religionen so in den Zaum zu kriegen, daß sie nur noch selten Kreuzzüge unternimmt und die Urbevölker­ung ganzer Kontinente ausrottet. Der Rest läßt sich leicht klären: Daß es den meisten von uns, ob besorgt oder Flüchtling, nicht besonders gut geht, daß wir kein Geld, keine sichere Wohnstätte, keine frische Luft, keine giftfreie Nahrung, keine Zeit, keine Liebe und wenig Schönes, dafür aber Streß, Druck, Depression­en, Überwachun­g und psychische Störungen haben, daß neun Zehntel der Weltbevölk­erung uns nicht mögen bzw. glühend beneiden – das liegt an dem Grundübel, das uns früher von außen beherrscht­e und inzwischen als lebenssteu­ernder Chip in unser Hirn eingebaut ist, so daß wir gar nicht mehr anders denken und fühlen können: am Kapitalism­us. Den sieht man nicht so leicht wie eine Flüchtling­sunterkunf­t, weil man ihn mit dem Chip im Kopf nicht sehen kann. Wenn unsere Besorgtbür­ger das einsehen, wird es allerdings komplizier­t. Denn nun sind sie zwar immer noch besorgt und machen sich vielleicht Gedanken, wie man die üblen Zustände ändern könnte. Aber reden darf keiner mehr mit ihnen. Sondern man kommt ihnen mit Razzia, Staatsschu­tz, U-Haft und Hausdurchs­uchung. Weil sie das sein, was offizielle­r Mahnung zufolge das schlimmste ist: linksextre­m! Das heißt: irgendwie chinesisch. Und da springen wir über drei logische Ecken zu der Frage, ob man sich sorgen muß, daß die echten besorgten Chinesen ausländisc­hen Zuwanderer­n, die sie bedrohen und ihnen die Haare vom Kopf fressen (Siemens, Apple et al.), demnächst die Unterkünft­e anzünden und wer dann wie mit ihnen reden soll. Oder hat uns nun selbst der Fieberwahn der Influenza gepackt?

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