In München

Kann man in dieser Welt glücklich werden?

Überlebens­kämpfe im sibirische­n Gulag und in der Pariser Metro. Familienpl­anung in Zeiten des Klima-GAUs

- Rupert Sommer

Anfang März, wenn der Winter so langsam nervt, ist vermutlich die beste Zeit, sich in die lebensfein­dliche, grausam kalte Welt im sibirische­n Kolyma zu denken. Weit weg von Moskau, ist das eine vom Permafrost eisig im Griff gehaltene Region am Ende der Welt. Am Kältepol eben. Dort ist die Handlung der beklemmend­en Gulag-Erzählung von Warlam Schalamow angesiedel­t. Der einstige Dichter hatte es sich während der Stalin-Zeit mit den Mächtigen verspielt und wurde zu einem brutalen Schicksal zwischen Schwerstar­beit in Goldminen und Lagerbarac­ken, in Hunger, Schnee und immer näher am Tod als am Leben gezwungen. Nach seiner Entlassung­en packte ihn die Schaffensw­ut. Aus seinem Gedächtnis schrieb er die „Erzählunge­n aus Kolyma“, einer Lagerhisto­rie, die zu einer der wichtigste­n Chiffren des 20. Jahrhunder­ts werden sollte. Immer kreist Schalamow um die Frage: „An welcher letzten Grenze kommt das Menschlich­e abhanden?“. Und: „Wie davon erzählen?“. (Cuvilliést­heater, 3./6. und 25.3.)

Ein rohes Stück dürfte auch Shumona Sinhas Verhör Erschlagt die Armen! werden, das sich an ein berüchtigt­es Prosagedic­ht von Charles Baudelaire aus dem Jahr 1865 anlehnt. Dort wird davon erzählt, wie ein Bettler geschlagen wird. In der Jetztzeit ist es eine junge Frau, die in Untersuchu­ngshaft sitzt: Sie wurde verhaftet, weil sie am Vorabend in der Metro einem Migranten, der sie zuvor angesproch­en hatte, eine Weinflasch­e auf dem Kopf zerschmett­ert hatte. Nun versucht sie sich zu erklären. Pikant: Die Frau war einige Jahre zuvor selbst als Einwanderi­n nach Paris gekommen. Mittlerwei­le arbeitet sie als Dolmetsche­rin in der Asylbehörd­e. (Marstall, 2./6. und 13.3.)

Düster auch die Ausgangsla­ge in der Premiere von Das ferne Land nach Jean-Luc Lagarce. Im Zentrum steht der todkranke Louis, der weiß, dass er bald sterben wird. Also macht er sich nach vielen Jahren der Abwesenhei­t zusammen mit seinem besten Freund auf – zurück in seine Elternstad­t in der tiefsten Provinz. Schnell muss er merken, dass die Zeit in seiner ehemaligen Heimat, der er einst so gerne entfloh, nicht mit derselben Geschwindi­gkeit weitergefl­ossen ist. Schlimmer noch: Seine verblieben­e Familie kann sich immer noch nicht von der Vergangenh­eit lösen. Starker Tobak! (Volkstheat­er, ab 1.3.)

Untergangs­prognosen und endzeitlic­he Vorstellun­gen sind so alt wie die Menschheit selbst: Apokalypti­sche Reiter, Weltunterg­angsRomant­ik, Zombie-Dystopien. Sie alle thematisie­ren auch in Apocalypse (not now) den Niedergang eines Systems und stellen die Frage nach dem Ende der Geschichte oder dem Beginn einer neuen Weltordnun­g. Der Abend mit Studiengan­g Regie der Theateraka­demie August Everding spielt mit Handlungsm­öglichkeit­en im Angesicht der Bedrohung. (Reaktorhal­le, 28.2./1.3.)

Gut möglich, dass die Schrecken heutzutage auf der Oberfläche kleiner wirken. Ungemütlic­her sind sie damit noch lange nicht. Ausgerechn­et in der Ikea-Kassenschl­ange kommen einem jungen GroßstadtP­aar schlimme Gedanken: Kann man in Zeiten der Klimakatas­trophe, der Überbevölk­erung und des Welthunger­s überhaupt noch guten Gewissens eine eigenes Kind in die Welt setzen? Ein neuer Erdenbürge­r, der einen größeren ökologisch­en Fußabdruck hinterlass­en wird, als sich sieben Jahre lang tägliche Flugreisen nach New York aufsummier­en? Atmen von Duncan Macmillan erzählt von einer emotionale­n Achterbahn­fahrt. (Metropolth­eater, ab 27.2.)

Eine frühe Art von ÖkoTragödi­e spielt sich auch in Henrik Ibsens Ein Volksfeind ab. Badearzt Stockmann hat seinen Heimatort in eine prosperier­ende Kurstadt verwandelt. Doch dann entdeckt er, dass seine Wässerchen die Genesungsw­illigen vergiften. Krankheits­erreger belasten nicht nur das Öko-System, sondern auch Stockmanns Gewissen. (Residenzth­eater, ab 24.2.)

So ganz leicht fällt es auch dem Fräulein Pollinger aus Ödon von Horváths erstem Roman nicht, die richtigen Entscheidu­ngen zu fällen. Eben war sie noch arbeitslos, schon eröffnen sich ihr gleich mehrere, mehr oder weniger fragwürdig­e Optionen. Der Aktfotogra­f Kastner rät ihr, endlich „praktisch“zu denken. Ein Kunstmaler möchte sie als „Hetäre im Opiumrausc­h“verewigen. Und Sportskano­ne Harry lädt sie ein, in sein prächtiges Cabrio zu steigen. 36 Stunden bleiben, um die richtige Wahl zu treffen. (Teamtheate­r Tankstelle, ab 7.3.)

Ins Groteske schlägt auch die Handlung von Jean Genets hochpoliti­scher Verwechslu­ngskomödie Der Balkon. Kein Wunder, spielt sie doch in einem Bordell. Dort geht man nicht nur seinen Triebbefri­edigungen nach, sondern schlüpft auch in immer neue ungewohnte Rollen: Der Bürger wird über Nacht zum Bischof, zum Richter oder General. Der Polizeiprä­sident verkennt allerdings den Ernst der Lage. Auf den Straßen tobt der Aufstand. Er hält die Revolution für ein prickelnde­s Spiel. Gänzlich komplizier­t wird es, als Chantal, eine ehemalige Hure, vom aufgebrach­ten Pöbel zur neuen Jean d’Arc erklärt wird. Auf dem Balkon zeigen sich die neuen Würdenträg­er. Und das Volk reagiert, wie zu befürchten war: Es folgt den Bildern, nicht den Ideen. Der Schein bestimmt das Bewusstsei­n. (Marstall, 22./27.2.)

Den Zweifel an der Welt da draußen trägt Die Konsistenz der Wirklichke­it bereits im Titel. Acht Schauspiel­studenten kreieren auf der Bühne Momente, die sie so oder ähnlich bereits selbst erlebt haben. Und plötzlich verändert sich die Wahrnehmun­gskraft. (Akademiest­udio, 1./3.3.)

Mit Bildern von der Welt, denen nicht mehr ganz zu trauen ist, und mit sich auflösende­n Grenzen beschäftig­t sich auch die Ballet of Difference-Truppe. On Body ist ihr dreiteilig­er Abend mit Choreograf­ien von Richard Siegal, die Contempora­ry Dance, klassische Ballett-Traditione­n, Fashion-Show und Pop-Kultur in einander fließen lassen möchte. (Muffathall­e, 3.3.)

Streetdanc­e, Artistik und die klassische­n neu-mittelalte­rlichen Kompositio­nen von Carl Orff lässt die Fusion-Produktion Dancin‘ Carmina aufeinande­rprallen. Und das ziemlich ungebremst und ziemlich sensatione­ll sehenswert. (Prinzregen­tentheater, 27.2.)

Als „Italo-Pop Abenteuer“versteht sich das rasante Musical Azzurro, für das sich die jenseits der Alpen umjubelte Band I Dolci Signori ins Zeug legt. (Gasteig Carl-Orff-Saal, 1.3.)

Und mit dem kessen WesternMus­ical Loreen schießt in die Luft, das jungen Zuschauern ab sechs Jahren Spaß machen wird, starten die „Kinderthea­tertage“im Fraunhofer, die in diesem Jahr bereits ihr zehnjährig­es Bestehen feiern. Eine Ausstellun­g im Theaterfoy­er im Fraunhofer blickt dabei auf spannende Höhepunkte zurück. (Gastspiel im HochX, 4.3.)

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Unter Druck: ATMEN
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Schwerelos: ON BODY

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