„Man muss das Schöne sehen“
Schon vor, ich weiß nicht, vielleicht einem halben Jahrhundert, sagte das der belgische Musiker Jaques Brel. Meine Interpretation ist: man darf das Schöne nicht übersehen. Keine Sorge, ich verschone euch aber mit eigenen Schilderungen über die Schönheit der Natur oder der sogenannten kleinen Dinge des Lebens, ihr wisst alle was gemeint ist. Ich denke, was für die Augen gilt, gilt auch für die Ohren. Man muss das Schöne auch hören, also lassen wir uns ein auf:
Daniel Lanois – Goodbye To Language (2017 Anti/Red Floor Records). Zusammen mit seinem L.A.-Buddy Rocco Deluca hat der kanadische Musiker und Produzent kommerziell erfolgreicher Platten mit Künstlern wie Brian Eno, U2, Peter Gabriel, Emmylou Harris, Bob Dylan, Neil Young u.v.m. ein Album völlig fernab der gängigen Ambient-Klischees gemacht. Es besteht aus nur zwei Instrumenten: Einer Pedal Steel Guitar von Lanois gespielt, und der Lap Steel Guitar von Deluca. Sonst nichts, keine Drum Loops, keine Maschinen Sounds aus dem Computer und – keine Sorge – auch keine Country Music-typischen Melodien und Riffs, die man sonst von diesen Instrumenten kennt. Vielmehr ein Bad in warmen, fremdartigen, aber immer versöhnenden Science-Fiction-mäßigen Klängen. Zwölf Stücke, gemeinsam live eingespielt, angereichert mit Lanois’ Lust, im Studio mit den aufgenommenen Stücken zu experimentieren und unzählige kleine Details in Handarbeit zu verfremden (eine nicht unbedingt zu empfehlende Frickelarbeit, wie Lanois betont). Für diejenigen unter euch, die zum Musikhören unbedingt reale Bilder brauchen: könnte auch der Soundtrack zu Kubrick’s „2001 Odyssee im Weltraum“sein, oder zu einem Spaziergang in einer menschenleeren Landschaft. Oder wie geil wäre das: zu einer Unterwasser-Doku ganz ohne Worte. Was mich selbst so berührt ist die eigenartige Parallele zu – um bei der Filmanalogie zu bleiben – Schnitttechniken bei alten Nouvelle Vague-Filmen aus den Neunzehnsechziger Jahren von Godard oder Truffaut, mit Brüchen und überraschenden Wendungen, gar nicht ambient-typisch in einer durchgängigen gleichmäßigen Bewegung, sondern oft durchsetzt mit abrupten Sprüngen, Innehalten und Harmoniewechseln. Dadurch entsteht ein ganz eigener Fluss. Diese Art Musik kann man nicht am Laptop programmieren, die muss man spielen, aufnehmen und mit Studiotechnologie delikat verfeinern. Eine Symbiose aus alt und neu also, ist das nicht faszinierend?
Ein großer Zeitsprung 35 Jahre zurück zu einem Album, das nicht nur aufgrund seiner computerfreien Machart und der analogen Sounds, Instrumente und Aufnahmetechnik gar nicht so weit von „Goodbye To Language“entfernt ist, nicht weniger modern klingt und seit seinem Erscheinen Musiker überall auf der Welt inspiriert: Brian Eno – Ambient 4 On Land (1982 E.G. Records). Sowas hatte Klein-Mario noch nie gehört! Klänge, die man riechen konnte, die braun und grün wie Mutter Erde und gleichzeitig nicht von dieser Welt waren. Musikmäßig die erste große Liebe, sie bleibt für immer. Ich hörte Wind, Wasser, Vögel, quakende Frösche raus, aber kamen die vom Mars? Brian Eno, der Mann, der seiner Musik den Namen „Ambient“gab. Was ich damals noch nicht wusste: das Album entstand in Zusammenarbeit mit diesem kanadischen Jungen namens Daniel Lanois in dessen Kellerstudio im Haus der Mama außerhalb von Toronto. Die beiden sollten später gemeinsam die Band U2 produzieren. Der Fluss ist hier ein anderer, deutlich langsamer und in weiten Bögen. Jedes der acht Stücke basiert auf Bandaufnahmen aus der Natur kombiniert mit gespielten Instrumenten wie Gitarre, Bass, Piano, allen möglichen Glocken, analogen Synthies, oftmals verfremdet durch Verlangsamung der Bandgeschwindigkeit. Ja liebe Kids, Tonbänder (siehe Wikipedia), die man an der gewünschten Stelle mit weißem Stift markierte, um sie mit der Hand und einer Rasierklinge zu schneiden und wieder neu zusammenzukleben, um beispielsweise einen Loop (eine Soundschleife) zu erzeugen. Später beim dritten Album kommen wir noch auf Bandmaschinen zurück. Auch gab es damals keine Möglichkeit, Effekte per Mausklicks zu automatisieren, und schon gar keine PlugIns mit einprogrammierten Algorithmen. Um den Klang eines Instruments zu verändern, gaben sich Eno und Lanois direkt bei der Aufnahme Zeichen, wenn es soweit war, an den Knöpfen eines der drei Effektgeräte, die sie besaßen, zu drehen. „Ambient 4 On Land“ist der Beweis dafür, dass limitierte Möglichkeiten die Schöpferkraft unendlich beflügeln können. Und ganz wie bei „Goodbye To Language“kann man, wenn man die Augen schließt und sich fallen lässt, jedes Mal garantiert etwas Schönes fühlen und entdecken. Deshalb sind sie beide Meisterwerke.
Zu denen zähle ich auch die dritte, vielleicht radikalste Platte meiner kleinen Auswahl: Robert Fripp – Let The Power Fall, an Album of Frippertronics (1981 E.G. Records). Der Cheffe und einziges ständiges Mitglied der seit Mitte 1960 existierenden Band King Crimson ist ein alter Freund und Wegbegleiter von Eno, hat mehrere Alben mit ihm zusammen veröffentlicht, und wurde von ihm mit der dieser Scheibe zugrunde liegenden Technik bzw. Methode vertraut gemacht, die Fripp sich dann unter dem lustigen Namen „Frippertronics“zu eigen machte. Man nehme eine elektrische Gitarre, zwei Tonbandmaschinen, die sich ein Band teilen (da sind wir wieder beim Thema), drücke auf Start und fange an zu spielen. Keine nachträglichen Korrekturen, kein Ausbessern möglich. Denn jeder gespielte Ton, egal ob richtig oder falsch, wiederholt sich unweigerlich alle paar Sekunden je nach Länge des Bandes, bis er langsam und allmählich verblasst und von alleine ins Nichts verschwindet. Und so funktioniert‘s: Fripp spielt eine Note, das Signal durchläuft die durch das Band miteinander verbundenen Tonbandmaschinen, wird von der zweiten wieder zurück zur ersten geschickt und wiederholt sich so wie ein langes Echo. Fripp spielt natürlich weiter neues dazu und baut zusammen mit den ständig wiederkehrenden Tönen Stück für Stück eine komplexe Klangskulptur. Praktisch ein Live Looping. Aufgrund der physikalischen Eigenschaften des Tonbands verschlechtert sich der Klang bei jeder Runde, wird leiser und klingt gedämpfter, bis die Töne schließlich verschwinden. Da man mit Fug und Recht behaupten kann, dass der Mann sein Instrument beherrscht und nach eigener Aussage die nächste zu spielende Note schon vorher hört, ist man quasi live dabei, wie mit Hilfe der FrippertronicsTechnik Ton für Ton aufwühlende, dramatische, faszinierende Musik entsteht. Ich gebe aber zu, wahrscheinlich nicht geeignet zum nebenbei Hören beim Bügeln oder Lesen, oder als Klanguntermalung in der Yogastunde. Obwohl ...
... ist einziges Mitglied der Münchner Band Mobile Ethnic Minority, sein aktuelles, siebtes Album heißt „When And How Did All This Happen“woraus er am 21.3. im Maria Passagne einige Songs zum Besten geben wird.