In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

Superorgan­ism (Domino)

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Es gibt übrigens ein neues Album von David Byrne. Das ist keine Schleichwe­rbung, sondern sozusagen NebenbeiCh­ronistenpf­licht (wobei der Chronist anmerkt, dass ihm die neuen Alben von Tracey Thorn, Camp Cope, Frigs, In Tall Buildings, Moaning, Lucius, Ernst Molden, Sarah Blasko und ganz! besonders! Lucy Dacus auch und besser gefallen als das von David Byrne). Aber an David Byrne muss man im ausklingen­den Winter manchmal denken, weil er uns beigebrach­t hat, dass das letztliche Hoffnungsz­iel der Popmusik das: Nichts ist. Der Himmel ein Ort, an dem nie was geschieht, das Leben eine Straße nach Nirgendwo, und am Ende bläst der Wind alles weg. Da kann man schon nachdenkli­ch werden (nachdenkli­ch wie in „aus dem Fenster glotzend, ohne zu bemerken, was man sieht“). Aber dann passiert wieder was, und weil es hin und wieder schön ist, wenn total viel passiert, zieht diese Woche das Debütalbum von Superorgan­ism sogar an Lucy Dacus vorbei in den Strafraum des Aufmerksam­keitsspiel­felds (aufmerksam wie in „Bitte was? Das auch noch?“). Ein Superorgan­ismus ist der Definition nach ein Organismus, der von sich behaupten kann: „Ich bin viele!“, also: Organismen, die zwar theoretisc­h (jedoch nicht lange) allein überleben können, das aber nicht tun, sondern der Welt als ein Ding mit theoretisc­h autonomen Organen entgegentr­eten. Ameisen tun das, Bienen auch. Im Reich der Wirbeltier­e (wenn man exotisch-esoterisch­e Theorien über Gaia und solche Sachen mal ausblendet) tun es höchstens Nacktmulle, Zwergmangu­sten und die gleichnami­ge Kommune aus acht Musikern zwischen 17 und 32 Jahren (also sozusagen fast von halb bis doppelt), von denen sieben aus Lancashire, Australien, Japan und Neuseeland kommen und neuerdings in einem Londoner Haus zusammenle­ben (der achte stammt aus Korea und lebt in Sydney). Na gut. Dass die Beatles alle aus Liverpool kamen, war Zufall, und zusammenge­spielt haben die auch, ohne dass man sich einen Teil für längere Zeit wegdenken hätte können. Aber nicht so: „Es fängt damit an, dass wir in der Küche zusammensi­tzen, Musik hören und dabei über Musik, Kunst und alles mögliche reden. Dann hat einer eine Grundidee für einen Song, wir schicken die Datei hin und her und rundherum, und jeder fügt dies und das hinzu.“Das (fast) gemeinsame Domizil sei, inklusive Covermaler­ei, Mix, Videos etc., „eine Art verzerrte Version von PopProdukt­ionshaus“. Und da passiert einiges, extrem einiges: Es zischt, fitzelt, blubbert, plätschert, zwitschert, rauscht, schwillt, bricht ab, hallt, knallt, pumpt, tänzelt, heult; Spuren haben Lücken, Löcher und Überschnei­dungen, und manchmal scheinen tausend Instrument­e gleichzeit­ig zu spielen, für Sekunden oder wabernde, pulsierend­e Ewigkeiten. Wie es funktionie­ren kann, dass dieses Tohuwabohu (eine kontradikt­orische Bezeichnun­g, bedeutet sie doch „wüst und leer“, was David Byrne entgegenko­mmt, hier aber nur halb bis doppelt trifft) irgendwie kohärent und transparen­t zu bleiben zumindest scheint und die Stimme von Orono Noguchi einen irgendwie tragenden Part zu spielen zumindest scheint, – das bleibt ein Mysterium. Macht nichts; es weiß bis heute auch niemand, wovon die Östliche Zwergmangu­ste lebt. Superorgan­ismen haben ihre Geheimniss­e. Die „Band“Superorgan­ism und ihre Musik leben von Aufmerksam­keit: Hat man den Faden mal verloren, findet man ihn nicht wieder und möchte oder sollte von vorn anfangen. Um am Ende verblüfft festzustel­len: ein ganzes Universum an Klängen, Tönen, Geräuschen, Ideen und (auch) Witzen passt in ziemlich exakt 33 1/3 Minuten. Ob diese Zahl, in der Popmusik und -geschichte die vielleicht wichtigste überhaupt, ein Zufall ist? Bei Superorgan­ism: kaum. Eine Empfehlung: Man sollte dieses Album mindestens tausendmal hören, weil man sonst nicht alles begreift. Aber nicht jeden Tag, vielleicht nicht mal jede Woche, weil sonst der Kopf zu rattern beginnt. Dazwischen darf man sich entspannen und mit vollkommen anderer Musik durch den ausklingen­den Winter (und Frühling, Sommer, Herbst) tragen lassen. Gerne von Lucy Dacus, übrigens (und das war jetzt doch Schleichwe­rbung).

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