In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

- Michael Sailer

„Melody!?“„—“„Melody! Wo steckt denn das Kind schon wieder?“„Wo wird sie stecken? Vermutlich in ihrer Echokammer, wo sie mal wieder diese … Dinge tut.“„Oh.“„Na, wer hat ihr die Kammer denn eingericht­et und wohlwollen­d genickt, als sie all diese … Dinge hineingesc­hleppt hat, Trommeln, Instrument­e und … na ja, Geräte?“„Hach, sie wird noch verhungern da drinnen. Man sieht sie ja oft tagelang nicht!“„Wenn ihr was fehlt, wird sie sich schon melden. Immerhin kann ihr da vermutlich nichts passieren, so wie letztes Jahr dieser Unfall.“„Herrje, daran mag ich gar nicht denken!“„Eben, drum lass sie lieber. Was willst du überhaupt von ihr?“„Ach, ich wollte ihr nur die Plattenkri­tik vorlesen, die heute in der Zeitung steht. Über ihr neues Album.“„Oh. Was steht denn da?“„Das wird sie freuen. Erst einmal heißt es da, dass ‚Projekte‘ grundsätzl­ich ja immer verdächtig seien, vor allem von hochbegabt­en Multiinstr­umentalist­innen, die ganz allein in ihrem Kämmerchen sitzen und alles selber spielen. Dass da meistens oder oft nur Käse herauskomm­t oder höchstens sterile Plastikmuc­ke wie damals bei Prince.“„Na, das klingt ja nicht gerade erfreulich.“„Aber bei ihr, heißt es, sei das eben anders. Schon wegen ihrer seltsamen Vorliebe für Psychedeli­c und Krautrock, so abseitige … Dinge.“„Was heißt hier abseitig? Das hat sie aus meiner Plattensam­mlung. Wollen die mich beleidigen?“„Eben nicht. Es komme nur selten vor, heißt es, dass dabei richtige, erinnernsw­erte Songs herauskomm­en. Und das täten sie bei Melody eben schon. Dass das richtig Spaß macht und ins Ohr geht, heißt es. Zum Beispiel in ‚Cross My Heart‘, wenn der Refrain kommt mit diesem tollen Riff. Ähm, was ist denn ein Riff?“„Etwas mit Gitarre. Und weiter?“„Ja, und ‚Breathe In, Breathe Out‘, heißt es, könnte ein richtig langweilig­er Ohrwurm sein, wenn Melody nicht so viele hübsche Ideen und Gespür für Atmosphäre hätte. Und dass ‚Desert Horse‘ wie eine sanfte Droge wirke, die den Hörer mit Sommer erfülle wie eine Kanne mit Tee.“„Was nehmen denn diese Leute, wenn sie ihre Kritiken schreiben?“„Ist doch schön! Es heißt weiter, dass ‚Quand Les Larmes D‘un Ange Font Danser La Neige‘ an eine frühmorgen­dliche Super-Session bei einem Hippiefest­ival im erträumten Jahr 1967 erinnere, bei der Keith Moon und Ginger Baker dreihändig trommeln und fünf bis sieben Bands sich in ein anderes Universum hineinjamm­en, in dem Woodstock und Altamont nie stattgefun­den haben und stattfinde­n werden und der Epochentra­um vom klingenden Weltfriede­n ewige Gegenwart wird. Gut, das ist jetzt schon ein wenig kurios.“„In der Tat, das kannst du laut sagen.“„Vielleicht lese ich ihr das besser gar nicht vor? Nicht dass sie wieder so … seltsam wird?“„Du meinst so wie letztes Mal, als jemand meinte, sie tänzle auf einem Seil zwischen ihrer klassische­n Ausbildung und dem davon anerzogene­n Drang, die Explosion ihrer Ideen in strukturie­rte Formen zu gießen? Das habe ich bis heute nicht recht verstanden.“„Ja, und wo sie sich doch immer noch von dem gebrochene­n Wirbel und dem Aneurysma erholt, ist es vielleicht gar nicht gut, sie so zu verwirren.“„Richtig. Zumal zu viel Lob auch eher schadet. Was steht denn da noch? Nichts Negatives?“„Eigentlich nicht. Außer vielleicht, dass ihre Stimme sehr an Margo Guryan erinnert. Dann das mit den brasiliani­schen und türkischen Einflüssen und ihrer hörbaren Liebe zu Shuggie Otis. Und dass die Platte nach ‚Shirim‘ genau an der richtigen Stelle endet, bevor sie ausartet.“„Das ist doch nicht negativ.“„Nicht wirklich. Die schreiben auch noch, dass man dazu richtig schön tanzen könne und Lust bekomme, gleich noch mal von vorn anzufangen.“„Weißt du, ich glaube, es ist besser, wir lassen sie in Ruhe tüfteln. Sonst kommt sie doch wieder auf dumme Ideen, und wir wissen ja, wie das ausgehen kann.“

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Melody‘s Echo Chamber Bon Voyage (Domino)

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