THEATER Übergriffiges auf der Tagesordnung
Diese mutigen Produktionen loten die Grenzen von Anstand, Moral und Pikanterie aus
Frank Castorf, Theaterwüterich, der zuletzt sogar wieder für seine alte Wirkungsstätte an der Berliner Schaubühne gehandelt wurde, nimmt die aktuellen Wirrnisse im Intendantenzirkus mit Humor und genießt sein Vagabundendasein. Nach der Staatsoper („Aus einem Totenhaus“) hat es den gebürtigen Ost-Berliner nun ein Haus nebenan ans Residenztheater verschlagen. Dort inszeniert er mit Moliéres Komödie Don Juan einen der pikantesten Klassiker der an Frivolitäten nicht armen Bühnengeschichte – getreu dem Don-Juan-Credo: „Ich habe einen natürlichen Hang, mir bei allem, was mich anzieht, keine Schranken zu setzen.“Oder hat Castorf damit über sein eigenes Arbeiten gesprochen? Man wird es herausfinden. Im Zentrum der Handlung steht jedenfalls ein Typ, der ihm gefallen dürfte: Juan ist ein spanischer Adeliger, der gleichermaßen mit sexuellem Appetit, intellektueller Finesse und moralischer Unbekümmertheit gesegnet ist. Zusammen mit seinem geistig etwas schwergängigen Diener reist er durch Sizilien, um Frauen klarzumachen. Dumm nur, wenn seine Herzensdamen ihn nach skrupellos durchgezogenem Techtelmechtel nicht mehr ziehen lassen wollen. Oder noch übler, wenn sie bewaffnete Brüder haben. Das Chaos nimmt seinen Lauf. (Residenztheater, ab 29.6.)
Ein nicht nur aus heutiger Sicht sehr fragwürdiges Frauenbild hat natürlich auch der große Zampanò aus Federico Fellinis Oscar-prämierten Kultfilm La Strada, das Marco Goecke zu einem Ballett gemacht hat. Sein Partnerin und Assistentin Gelsomina hält er wie eine Sklavin. Weil sie völlig mittellos und dem Muskelmann auch noch verfallen ist, macht sie ein trauriges Clowngesicht zum bösen Spiel und zieht nolens volens mit ihm über die staubigen Landstraßen. Doch dann lernt Gelsomina den wagemutigen Seiltänzer Matto kennen. Und weil der überraschenderweise charmant und nett zu ihr ist, blüht sie auf wie eine dieser Wüstenrosen. Zampanò sieht das natürlich gar nicht gerne. Tragik deutet sich an. Und wie. Donnernd laut! (Gärtnerplatztheater, ab 12.7.)
Komplett durcheinander sind alle Geschlechterverhältnisse in William Shakespeares Sommernachtstraum geraten. Kein Wunder, hat der Chefkobold Puck doch immer wieder Öl ins Feuer der launigen Liebestriebe gegossen. Nicht nur die Feenfürstin und der Elfenkönig haben Beziehungsstress. Für reichlich viel Verwirrung – und nicht wenig Unfug – sorgt auch eine munter Truppe von Amateurschauspielern, die ebenfalls durch den warmen Wald irrlichtert. Helmut von Ahnen hat das sommerliche Spektakel passenderweise gleich ins Freie verlagert – in die von vielen Tierstimmen aufgeheizte, nun ja, Märchennatur im Ostpark. (LunaticoTheaterzelt Ostpark, ab 5.7.)
Großes Durcheinander auch auf der GOP-Bühne. Ihren Präsentationsabend – immerhin sind es Absolventen der Varieté-Ausbildung – haben sich die zehn jungen Artisten eigentlich ganz anders vorgestellt. Doch dann entern lauter Tiere die Show. Sind es etwa entlaufene Zirkus-Attraktionen? Doch es werden tatsächlich immer mehr. Und nicht nur eine Ente, ein Zebra, sondern plötzlich auch ein Nilpferd. The Show Must Go On – auch wenn sich das bei Zoophobia leichter sagt, als durchführen lässt. (GOP Theater, 3.7.)
So viel Tohuwabohu würde man sonst eigentlich nur im reichlich überhitzten zweiten Teil von Johann Wolfgang von Goethes Meisterstück vermuten, wo Halbwesen wie der Homunculus herumgeistern, Falschgeld gezaubert wird und Helena den Männern die Köpfe verdreht. Der gefeierte Choreograf und Dortmunder Ballettdirektor Xin Peng Wang hat die Herausforderung angenommen das wirre, bewegte, fantastische Treiben unter dem mit einem Ausatmen hervorgestoßenen Titel Faust II – Erlösung! auf die Bühnenbretter zu hieven. (Gasteig Carl-OrffSaal, 10.7.)
Den Faust-Blick kann man noch weiten beim Dichter-Duell Dr. Faustus: J. W. Goethe vs. C. Marlowe, die zwei berühmte Bearbeitung des klassischen Volksstückstoffs gegenüberstellt. Natürlich leidet der Gelehrte hier auch. Doch der Teufel schläft auch beim Shakespeare-Zeitgenossen Christopher Marlowe nicht. (Kulturhaus Neuperlach, ab 29.6.)
Schön deftig dürfte die Finnisch-Lektion ablaufen, an die sich Jacqueline Reddington wagt. Sie rutscht mit der Maus herum und stellt einen Mann vor, der das sehnsuchtsvolle Warten auf einen Besuch schon längst nicht mehr aushält. Um sich – allein zu Hause und vermutlich denkbar triebmotiviert – die Zeit zu vertreiben, fährt er den Rechnerhoch, verliert sich in den phantasti schen Welten des Digitalen und vergeht an seinem obsessiven Fetisch. Was ist da noch Realität? Was ist technische Täuschung? (Kammerspiele, 5./7./8.7.)
Ähnlich schmierig der Grundansatz der spannenden neuen Studentenproduktion #DearHarvey, die den Skandal um den Filmproduzent und mittlerweile unter Anklage stehenden ehemaligen Miramax-Gründer Harvey Weinstein als Sprungbrett nimmt. Wie konnten die fürchterlichen Vorwürfe rund um sexuelle Übergriffe, Vergewaltigung und ganz allgemein monströsen Machtmissbrauch, die angeblich bis in die 70er Jahre zurückreichen, so lange unter dem Teppich bleiben? Die mutige Produktion richtet einen Brief an Weinstein, aber auch an die Gesellschaft, die dazu beigetragen hat, dass die Stille nicht gebrochen wurde. (Neue Studiobühne der Theaterwissenschaften, 28./29./30.6.)
Rund um die gesellschaftliche Relevanz von Anziehungs- und Spannungsverhältnisse, ganz konkret saftig rund um Lust und Erregung, kreist dann auch noch die About A Session-Choreografie, die Anna Konjetzky entworfen hat. Welche Bewegungen, Blicke, Worte stimulieren? Und warum schwitzen die Hände so schnell, wenn man im Kämmerlein „im Internet recherchiert“? Los geht der Abend mit einer Lecture-Performance, dann kippt der Vortrag, wird in einem Video fortgeführt, bis dann die Tänzer der Produktion sich vor dem Publikum in Bewegung setzen. (Kammerspiele, 6./7.2.)