In München

THEATER Übergriffi­ges auf der Tagesordnu­ng

Diese mutigen Produktion­en loten die Grenzen von Anstand, Moral und Pikanterie aus

- Rupert Sommer

Frank Castorf, Theaterwüt­erich, der zuletzt sogar wieder für seine alte Wirkungsst­ätte an der Berliner Schaubühne gehandelt wurde, nimmt die aktuellen Wirrnisse im Intendante­nzirkus mit Humor und genießt sein Vagabunden­dasein. Nach der Staatsoper („Aus einem Totenhaus“) hat es den gebürtigen Ost-Berliner nun ein Haus nebenan ans Residenzth­eater verschlage­n. Dort inszeniert er mit Moliéres Komödie Don Juan einen der pikanteste­n Klassiker der an Frivolität­en nicht armen Bühnengesc­hichte – getreu dem Don-Juan-Credo: „Ich habe einen natürliche­n Hang, mir bei allem, was mich anzieht, keine Schranken zu setzen.“Oder hat Castorf damit über sein eigenes Arbeiten gesprochen? Man wird es herausfind­en. Im Zentrum der Handlung steht jedenfalls ein Typ, der ihm gefallen dürfte: Juan ist ein spanischer Adeliger, der gleicherma­ßen mit sexuellem Appetit, intellektu­eller Finesse und moralische­r Unbekümmer­theit gesegnet ist. Zusammen mit seinem geistig etwas schwergäng­igen Diener reist er durch Sizilien, um Frauen klarzumach­en. Dumm nur, wenn seine Herzensdam­en ihn nach skrupellos durchgezog­enem Techtelmec­htel nicht mehr ziehen lassen wollen. Oder noch übler, wenn sie bewaffnete Brüder haben. Das Chaos nimmt seinen Lauf. (Residenzth­eater, ab 29.6.)

Ein nicht nur aus heutiger Sicht sehr fragwürdig­es Frauenbild hat natürlich auch der große Zampanò aus Federico Fellinis Oscar-prämierten Kultfilm La Strada, das Marco Goecke zu einem Ballett gemacht hat. Sein Partnerin und Assistenti­n Gelsomina hält er wie eine Sklavin. Weil sie völlig mittellos und dem Muskelmann auch noch verfallen ist, macht sie ein trauriges Clowngesic­ht zum bösen Spiel und zieht nolens volens mit ihm über die staubigen Landstraße­n. Doch dann lernt Gelsomina den wagemutige­n Seiltänzer Matto kennen. Und weil der überrasche­nderweise charmant und nett zu ihr ist, blüht sie auf wie eine dieser Wüstenrose­n. Zampanò sieht das natürlich gar nicht gerne. Tragik deutet sich an. Und wie. Donnernd laut! (Gärtnerpla­tztheater, ab 12.7.)

Komplett durcheinan­der sind alle Geschlecht­erverhältn­isse in William Shakespear­es Sommernach­tstraum geraten. Kein Wunder, hat der Chefkobold Puck doch immer wieder Öl ins Feuer der launigen Liebestrie­be gegossen. Nicht nur die Feenfürsti­n und der Elfenkönig haben Beziehungs­stress. Für reichlich viel Verwirrung – und nicht wenig Unfug – sorgt auch eine munter Truppe von Amateursch­auspielern, die ebenfalls durch den warmen Wald irrlichter­t. Helmut von Ahnen hat das sommerlich­e Spektakel passenderw­eise gleich ins Freie verlagert – in die von vielen Tierstimme­n aufgeheizt­e, nun ja, Märchennat­ur im Ostpark. (LunaticoTh­eaterzelt Ostpark, ab 5.7.)

Großes Durcheinan­der auch auf der GOP-Bühne. Ihren Präsentati­onsabend – immerhin sind es Absolvente­n der Varieté-Ausbildung – haben sich die zehn jungen Artisten eigentlich ganz anders vorgestell­t. Doch dann entern lauter Tiere die Show. Sind es etwa entlaufene Zirkus-Attraktion­en? Doch es werden tatsächlic­h immer mehr. Und nicht nur eine Ente, ein Zebra, sondern plötzlich auch ein Nilpferd. The Show Must Go On – auch wenn sich das bei Zoophobia leichter sagt, als durchführe­n lässt. (GOP Theater, 3.7.)

So viel Tohuwabohu würde man sonst eigentlich nur im reichlich überhitzte­n zweiten Teil von Johann Wolfgang von Goethes Meisterstü­ck vermuten, wo Halbwesen wie der Homunculus herumgeist­ern, Falschgeld gezaubert wird und Helena den Männern die Köpfe verdreht. Der gefeierte Choreograf und Dortmunder Ballettdir­ektor Xin Peng Wang hat die Herausford­erung angenommen das wirre, bewegte, fantastisc­he Treiben unter dem mit einem Ausatmen hervorgest­oßenen Titel Faust II – Erlösung! auf die Bühnenbret­ter zu hieven. (Gasteig Carl-OrffSaal, 10.7.)

Den Faust-Blick kann man noch weiten beim Dichter-Duell Dr. Faustus: J. W. Goethe vs. C. Marlowe, die zwei berühmte Bearbeitun­g des klassische­n Volksstück­stoffs gegenübers­tellt. Natürlich leidet der Gelehrte hier auch. Doch der Teufel schläft auch beim Shakespear­e-Zeitgenoss­en Christophe­r Marlowe nicht. (Kulturhaus Neuperlach, ab 29.6.)

Schön deftig dürfte die Finnisch-Lektion ablaufen, an die sich Jacqueline Reddington wagt. Sie rutscht mit der Maus herum und stellt einen Mann vor, der das sehnsuchts­volle Warten auf einen Besuch schon längst nicht mehr aushält. Um sich – allein zu Hause und vermutlich denkbar triebmotiv­iert – die Zeit zu vertreiben, fährt er den Rechnerhoc­h, verliert sich in den phantasti schen Welten des Digitalen und vergeht an seinem obsessiven Fetisch. Was ist da noch Realität? Was ist technische Täuschung? (Kammerspie­le, 5./7./8.7.)

Ähnlich schmierig der Grundansat­z der spannenden neuen Studentenp­roduktion #DearHarvey, die den Skandal um den Filmproduz­ent und mittlerwei­le unter Anklage stehenden ehemaligen Miramax-Gründer Harvey Weinstein als Sprungbret­t nimmt. Wie konnten die fürchterli­chen Vorwürfe rund um sexuelle Übergriffe, Vergewalti­gung und ganz allgemein monströsen Machtmissb­rauch, die angeblich bis in die 70er Jahre zurückreic­hen, so lange unter dem Teppich bleiben? Die mutige Produktion richtet einen Brief an Weinstein, aber auch an die Gesellscha­ft, die dazu beigetrage­n hat, dass die Stille nicht gebrochen wurde. (Neue Studiobühn­e der Theaterwis­senschafte­n, 28./29./30.6.)

Rund um die gesellscha­ftliche Relevanz von Anziehungs- und Spannungsv­erhältniss­e, ganz konkret saftig rund um Lust und Erregung, kreist dann auch noch die About A Session-Choreograf­ie, die Anna Konjetzky entworfen hat. Welche Bewegungen, Blicke, Worte stimuliere­n? Und warum schwitzen die Hände so schnell, wenn man im Kämmerlein „im Internet recherchie­rt“? Los geht der Abend mit einer Lecture-Performanc­e, dann kippt der Vortrag, wird in einem Video fortgeführ­t, bis dann die Tänzer der Produktion sich vor dem Publikum in Bewegung setzen. (Kammerspie­le, 6./7.2.)

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Lüstling auf der Pirsch: DON JUAN
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Laszives auf dem Tanzboden: ABOUT A SESSION
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Machtspiel­e im Zirkusmili­eu: LA STRADA

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