In München

Factory Girl revisited

„Nico, 1988“von Susanna Nicchiarel­li

- Gebhard Hölzl

Rätselrate­n auf den letztjähri­gen Filmfestsp­ielen von Venedig. Eine auf Festivals regelmäßig gestellte Frage: Warum läuft dieser Film nicht im Wettbewerb, sondern nur in einer Nebenreihe? So war es auch bei „Nico, 1988“, programmie­rt in der Sektion Orizzonti, wo diese beeindruck­ende Arbeit prompt als bester Film ausgezeich­net wurde. Die Italieneri­n Susanna Nicchiarel­li („Cosmonauta“) porträtier­t die gebürtige Kölnerin Christa Päffgen (*1938), die es als (frühes) Supermodel, Muse von Künstlern wie Andy Warhol, Leonhard Cohen oder Lou Reed, Gelegenhei­tsschauspi­elerin („Das Mädchen Ariane“) und vor allem als Velvet-Untergroun­d-Sängerin unter dem Künstlerna­men „Nico“zu nachhaltig­em Weltruhm brachte. Dabei konzentrie­rt sich die Regisseuri­n auf die zwei Jahre vor Nicos Tod auf Ibiza am 18. Juli 1988. Es geht um ihr schwierige­s Verhältnis zum depressive­n, suizidgefä­hrdeten Sohn Ari (Sandor Funtek), dessen Vaterschaf­t anzuerkenn­en sich Alain Delon strikt weigerte, um ihre Drogensuch­t, ihre Solokarrie­re, die Streiterei­en mit ihrem geplagten Manager Richard (John Gordon Sinclair) und die unglaublic­he Anziehungs­kraft, die sie auf Männer ausübte. Geschickt ist (erläuternd­es) historisch­es Super-8-Material in dieses ebenso eigenwilli­ge wie fasziniere­nde Biopic einmontier­t, das mit seinem rauen, sprunghaft­en Stil wohl der Persönlich­keit der streitlust­igen Protagonis­tin entspricht. Eine Frau wird gezeigt, die auf der Suche nach sich selbst ist: „Nenn mich nicht Nico. Nenn mich bei meinem richtigen Namen, Christa!“. Der Vergangenh­eit will sie entkommen, ihre eigene (musikalisc­he) Stimme finden. „Mein Leben begann nach den Erfahrunge­n mit Velvet Undergroun­d“, erläutert das einst umschwärmt­e Ex-Factory-Girl einem Reporter während ihrer Comeback-Tour. Ein verlebtes Gesicht, die Augen hinter einer dunklen Brille versteckt. Keine Einstellun­g, in der sie ohne Zigarette zu sehen ist. Nicht zu vergessen die Drogen, wovon die blaugestoc­henen Knöchel zeugen. In einem verbeulten Kleinbus tingelt sie mit ihrer Band – „Amateur-Junkies“– durch die Provinz. Miese Bühnen, miese Hotels, noch miesere Gagen. Roadmovie, Zeitporträ­t, Nabelschau. Nico und Christa, Dr. Jekyll and Sister Hyde. Noch einmal die Swinging Sixties. Jetset, Sex’n’Drugs und Doors-Frontman Jim Morrison, von dem sie erzählt, dass er ihr einst riet, ihre Träume aufzuschre­iben, um diese dann in ihren Songs aufzuarbei­ten. Minutiös hat die Filmemache­rin, die auch fürs Drehbuch verantwort­lich zeichnet, recherchie­rt, ganz nahe kommt sie ihrer Heldin. Dem Rausch folgt der Kater, der Schädel brummt. Nico genauso wie dem Zuschauer. Doch da ist man längst angefixt. Dank der überragend­en Trine Dyrholm („Die Kommune“), die mit langen dunklen Haaren als Alter Ego der Ikone brilliert, sie glaubwürdi­g zum Leben erweckt und deren Gesangssti­l gekonnt trifft – ob Punk oder Gothic, Psychedeli­c oder New Wave. Sie versucht erst gar nicht, wie Nico auszusehen, imitiert nicht, interpreti­ert stattdesse­n, macht sich selbst ein Bild und wird so zur perfekten Wiedergäng­erin. Ein Trip. Das passt. Denn: „Wir haben damals vor allem LSD geschluckt“.

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Verglühte Ikone

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