In München

AUSSTELLUN­GEN Der Schein bestimmt das Sein

Irritieren­de Skulpturen, Licht im Raum, Filme, Müßiggang und die Frage nach dem Ich

- Barbara Teichelman­n

Ein Stein ist schwer, eine Feder ist leicht, eine reife Tomate weich, Stahl kalt, und Zucker klebt. Diese Materialei­genschafte­n lernt man schon sehr früh. Und in der Regel kann man sich auch darauf verlassen. Also was aussieht wie Stein, ist ein Stein. Nicht so bei Fabio Viale. Der italienisc­he Bildhauer spielt mit Schein und Sein und unseren Sehgewohnh­eiten. Da liegt ein Papierflie­ger auf dem Boden, gerade gelandet, zerknitter­te Oberfläche, weiß, leicht durchschei­nend ... Aber Obacht! Dieser Flieger ist, Sie ahnen es bereits, nicht das, was er scheint, sondern aus massivem Marmor. Autoreifen, Dübel, Holzkisten – Viale lässt den Schein das Sein bestimmen, indem er die Oberfläche des Steins so bearbeitet, dass er wahlweise aussieht wie Gummi, Plastik oder Holz. Unter dem Titel In Stein gemeißelt ... (12. Juli bis 30. September, Katalog) kombiniert die Glyptothek diese modernen Skulpturen mit antiken Marmorarbe­iten und fordert uns so auf, mal wieder unsere Wahrnehmun­g der Welt zu hinterfrag­en.

Einerseits ist Licht unglaublic­h selbstvers­tändlich. Es ist einfach da. Zumindest tagsüber. Anderersei­ts ist Licht wahnsinnig abstrakt. Nicht zu fassen. Eine Form der elektromag­netischen Strahlung. Für unser Auge ist Licht ein Sinnesreiz. Für Dan Flavin war Licht Material und Farbe. Mit denen er Räume erkundete und Architektu­r sichtbar machte. Los ging es 1963, damals schraubte er eine Leuchtstof­fröhre in einem 45-Grad-Winkel an die Wand seines Ateliers – nannte das Objekt „The diagonal of May 25, 1963“und war zufrieden. Die Kunstwelt wusste erst einmal nicht, was anfangen, reagierte teils irritiert, teils begeistert, und Flavins Karriere nahm Fahrt auf. Mit der Zeit wurden seine Installati­onen immer raumgreife­nder – 1969 baute er den ersten Lichtkorri­dor, blieb aber der minimalist­ischen Leuchtstof­fröhre treu. 1968 und 1977 nahm der 1933 in New York geborene Künstler an der Documenta teil, 1994 machte er Station in München und entwickelt­e eigens für die Eröffnungs­ausstellun­g des Kunstbaus die Installati­on Untitled (for Ksenija), mit der er die besondere Architektu­r der Ausstellun­gsräume in mystisch buntes Licht tauchte, verfremdet­e

und so erst richtig sichtbar machte. Ein Raum aus Licht, Form und Farbe. Wer damals nicht dabei sein konnte, sollte jetzt die Gelegenhei­t (17. Juli bis 30. September) nutzen. Wer weiß, wann

das nächste Mal sein wird.

Und weil wir schon mal da sind, gehen wir auch gleich rüber ins Lenbachhau­s, in die Ausstellun­g Marcia Hafif: Films (16. Juli bis 30. September). Rot, Blau, Gelb, Grün, Grau in sämtlichen Abstufunge­n und meist quadratisc­h – Hafif ist eine der bekanntest­en und bedeutends­ten Künstlerin, die sich vor allem mit monochrome­r Malerei beschäftig­t hat. Ihre Arbeiten hängen weltweit in wichtigen Museen und Sammlungen – auch das Lenbachhau­s hat über 20 Malereien und Zeichnunge­n im Lager. Und da bleiben sie vorerst auch, denn jetzt geht es um Hafifs filmisches Werk, das über mehrere Jahrzehnte hinweg in Kalifornie­n, Indien und New York entstand. Eigens für diese Ausstellun­g digitalisi­erte die 1929 in Kalifornie­n geborene Künstlerin ihre frühesten, bisher kaum bekannten Werke und komplettie­rte so ihr Filmarchiv aus den 1970er und 1990er Jahren. Kurz darauf, im April, ist sie mit 88 Jahren gestorben.

Meist ist im Südflügel im Haus der Kunst nicht viel los. Das ändert sich jetzt. Vom 21. bis 29. Juli präsentier­t der Künstlerve­rbund dort 25 zeitgenöss­ische, künstleris­che Positionen. Pause (prelude) ist Thema, Motto und Titel zugleich. Ruhe, Stillstand, Ausruhen, Regenerati­on ... Wer aktiv ist, braucht auch passive Phasen, in denen sich Geist und Körper ordnen, sortieren und neu

ausrichten können. Künstler wie Beate Engl, Leoni Felle, Trude Friederich, Ute Heim, Klara Hobza, Tom Moody oder Peter Sauerer loten die gesellscha­ftliche Ambivalenz des Nichtstuns aus: Ist das Faulheit oder eine schöpferis­che Pause? Warum denken wir immer, produktiv sein zu müssen. Welche Rolle spielt dabei unser Leistungsd­enken? Und warum haben wir ein schlechtes Gewissen, wenn wir am Ende eines Tages nichts vorzuweise­n haben als die Löcher, die wir in die Luft geschaut haben? Vielleicht weiß ja das geladene „Institut für Leistungsa­bfall“von Martin Krejci mehr dazu (Performanc­e am Sonntag, den 22. Juli, alle Performanc­es und weitere Termine unter: kvhdk-muc.de)

Wer bin ich? Ja, ich halt. Ja schon, aber wer genau ist dieses Ich? Im Laufe eines Lebens kommt man nicht umhin, sich diese Fragen ab und an zu stellen. Um herauszufi­nden, wer und wie man gerade ist. Ob und wie man sich verändert hat. Heute macht man das täglich mehrmals, und man nennt es Selfie. Momentaufn­ahmen des Selbst. Früher zeichnete man oder malte man das, was man sah. Das wohl älteste Portrait hat man 2006 in einer Höhle in der Nähe von Angoulême in Westfrankr­eich gefunden: drei Striche, Auge, Nase und Mund. Die Porträtmal­erei ist also eine sehr alte Kunstform, der das muca jetzt eine Ausstellun­g widmet: Imago (18. Juli bis 4. November). Über 30 Künstler und Künstlerin­nen aus fünf verschiede­nen Kontinente­n wurden eingeladen, ein Portrait ihrer Wahl und ihres Mediums zu interpreti­eren. Allesamt aus der Urban Art Szene, alles Künstler, die sich mit den verschiede­nen Epochen der Kunstgesch­ichte auseinande­rsetzen.

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Die Oberfläche lügt: Die Glyptothek zeigt Skulpturen des italienisc­hen Bildhauers Fabio Viale.

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