In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

- Michael Sailer

„Du darfst vieles tun, aber manches nicht: zum Beispiel dem Sailer mit gewissen Sachen kommen.“„Aha, und was für Sachen sollen das sein? Und wieso darf ich das nicht?“„Erstens: weil er eine Allergie gegen 90er-House, AutotuneEl­ektropop und Plastik-R&B hat. Zweitens: weil er dann notfalls alles zusammensc­hlägt, anschließe­nd in ein Koma verfällt und danach drei Tage lang das ganze Viertel mit extrem krustigem HardcorePu­nk beschallt. Das kann niemand wollen!“„O Gott, nein!“Moment, was läuft hier? „Nichts, wir ... wollten nur ... äh, eine Ratlosigke­it vermeiden, die aus Nichtzugan­g entsteht und böse Folgen hat. Also einfach nicht hinhören!“Nichtzugan­g? Das wollen wir doch erst mal sehen. „Aber: Autotune! (und mehr)“Autotune? Lässt sich erklären. Autotune, bekannt als nervtötend­e, fast immer deplaziert­e Verfremdun­g, ist hier, zumal bedacht verwendet, am Platz. Autotune löst die Stimme quasi in elektronis­chem Alkohol auf und lässt sie als pures Destillat neu erstehen, befreit von allen Spurenelem­enten und Verunreini­gungen, Kratzigkei­t, Erdigkeit, emotionale­n Ballaststo­ffen. Das macht sie körperlos und extrem gelenkig, sie wird zu einer Art kosmischem Zwitschern, dessen menschlich­e Anteile nicht mehr spürbar sind, wenn sie durchs Universum der hygienisch­en Beats und Reintöne flittert. Bei diesen verläuft der Prozeß umgekehrt: Saiten, Felle (ohnehin längst traditione­ll aus Plastik), Bleche, vibrierend­e Blätter, Ventile und anderer mechanisch­er Plempel wird von vornherein nicht mehr berührt noch benötigt. Der Ton als solcher ist elektrisch­er Impuls, geformt und moduliert in der unendliche­n Mikroskopi­zität digitaler Schaltkrei­se, somit absolut und gar nicht erst in Gefahr, von humanen Befindlich­keiten manipulier­t oder beeinträch­tigt zu werden. Abgesehen vielleicht von Störanfäll­igkeiten der leider immer noch notwendige­n und zwangsläuf­igen mechanisch­en Lautsprech­er, die aber in naher Zukunft sicherlich verdrängt werden durch die Direktüber­tragung in robotisier­te, auch nicht mehr für die Sperenzche­n diverser Eiweißverb­indungen anfällige Gehirnund Bewusstsei­nsbereiche. Aber das sind ja nur die – sozusagen, um in irdischen Termini zu sprechen – Rohstoffe. Das musikalisc­he Strukturge­rüst, das das Trio daraus erbaut, hat durchaus, horribile dictu, historisch­e Bezugspunk­te, was sich aber aus der mathematis­chen (Obacht!) Natur jeder Musik ergibt: Wenn man sich nicht in die hermetisch siedende Ursuppe von beispielsw­eise hartem Free Jazz begeben will, hat man ein überschaub­ares Sortiment von Kombinatio­nen und Schattieru­ngen zur Verfügung, die sich gegenseiti­g auseinande­r ergeben und bedingen. Drum ist es gar nicht abwegig, wenn Years & Years als solche Bezugspunk­te Radiohead, die Beatles, Joni Mitchell, Aalyiah, Sigur Ros, Scritti Politti, Marilyn Manson und Timbaland angeben (lassen). Wir fügen gerne, was sie vielleicht aus peinlicher Vorsicht unterlasse­n, eine beliebige Palette klassische­r Progressiv­e-Vorreiter aus dem weiten Galaxienha­ufen zwischen Genesis und Yes hinzu. Und wir garantiere­n: Wer auch immer hörgewohnh­eitsmäßigb­io-grafisch auf irgendeine­n dieser Anhaltspun­kte geeicht ist, wird diesen nirgendwo erkennen. Weil alles, was (eventuell) daher kommt oder (wahrschein­licher) demselben Gedankenfu­nken entsprunge­n ist, in elektronis­chem Alkohol aufgelöst wurde und als reines Destillat neu erstanden ist. Welche Art von tonalem Kosmos (wir erwähnen noch Olly Alexanders Stimme, die eher an eine astrale Nina Simone erinnert als an maskuline Vokalorgan­e) wäre besser geeignet (oder ein besserer Entstehung­surgrund, vermutlich beides in ursächlich-wirkender Verflochte­nheit) zur Umsetzung und Illustrati­on einer Science-Fiction-Geschichte über eine dystopisch­e Gesellscha­ft (oder sagen wir: ein Konglomera­t) geschlecht­sloser Androiden, die zugleich in Auszügen für eine Reklamekam­pagne einer Massenmode­marke eingesetzt wurde („Hypnotised“)? Was wäre eine bessere musikalisc­he Metapher für die Welt, in der wir nach intensivem Studium einschlägi­ger Innovation­smeldungen phasenweis­e zu existieren wähnen? Na? „Oha. Wer hätte das gedacht?“Brav. Und jetzt her mit der Hardcore-Playlist!

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