Der Moment, als ich anfing zu leben
Wir schreiben das Jahr 1991, ein Album mit dem simplen Titel „Nevermind“einer jungen Band aus Seattle namens Nirvana war gerade herausgekommen. Zu der Zeit war ich ein etwas pummeliger Teenager, in der Klasse ein Außenseiter, in der Schule nicht besonders gut, ich hatte keine wirklichen Hobbies und mein Hauptinteresse galt noch am ehesten dem Essen. Als ich das erste Mal „Smells Like Teen Spirit“hörte, durchfuhr mich ein Gefühl, so wuchtig, als stünde ich unter den Niagarafällen und würde mitgerissen mit der Strömung, völlig orientierungslos. Das Seltsame daran war, dass ich mich dabei unglaublich wohlfühlte. Es war in Ordnung. Es war ok, orientierungslos zu sein. Denn da war irgendetwas, was einem das Gefühl gab, verstanden zu sein, verstanden zu werden. Dieser Aufschrei war genau das, drückte genau das aus, was man tief im Inneren fühlte, sich jedoch nie getraut hatte herauszulassen. Ich fing an abzunehmen, meine Haare schulterlang wachsen zu lassen, Holzhackerhemden und zerrissene Jeans zu tragen und es interessierte mich nicht mehr so richtig, was andere Leute von mir dachten. Denn ich hatte plötzlich den Eindruck, nicht alleine zu sein und keine Angst mehr davor, komisch oder anders zu sein, als alle Menschen in meinem Umfeld.
Mit neun Jahren hatte ich mir zwar Queens „Greatest Hits 1 + 2“auf MC gekauft, die ich rauf und runter hörte, und mit sechs Jahren lief Ennio Morricones Filmmusik von „The Good, The Bad And The Ugly“, „Spiel mir das Lied vom Tod“usw. in Dauerschleife neben verschiedenen Platten der EAV – aber nun hatte sich etwas geändert. Ich nahm Gitarrenuntericht, um meine Lieblingssongs selbst spielen zu können und gründete mit ein paar Schulfreunden eine Band. So allmählich entdeckte ich die Vinyl-Sammlung meiner Eltern und kam so zu Neil Youngs „Comes A Time“, und „On The Beach“, Van Morrisons „Veedon Fleece“und „Hard Nose The Highway“und zu Klassikern wie Pink Floyds „Dark Side Of The Moon“, „The Wall“, Bob Dylans „Desire“aber auch zu aktuelleren Meisterwerken wie „Out Of Time“von REM oder U2s „Achtung Baby“.
So begann ich, einen eigenen Musikgeschmack zu entwickeln, kam so auf Alice In Chains – zuerst mit ihrem härteren Album „Dirt“mit ihrem unverwechselbaren mehrstimmigen Gesang und den treibenden Riffs, verliebte mich dann aber in das akustischere „Jar Of Flies“. Chris Cornells kreischende Stimme, aber vor allem die düstere Stimmung von Songs „4th Of July“und „Head Down“auf Soundgardens Durchbruchalbum „The Superunknown“. Pearl Jams Debütalbum „Ten“ließ mich nicht mehr los mit Songs wie „Even Flow“oder „Jeremy“, der vom Amok-
lauf eines Schülers handelt und später bei den MTV-Awards alles abräumte, entdeckte die Meisterwerke „Siamese Dreams“von den Smashing Pumpkins auf einer Feier einer Musik fanatischen Freundin, die ihr Haar so wachsen ließ, dass sie aussah wie Slash, der Gitarrist von Guns N‘ Roses. Am Ende der Feier, saßen wir in einem Zimmer zusammengekauert vor einem alten Kassettenrekorder auf dem Boden und lauschten gebannt den Traumwelten Billy Corgans die sich in Songs wie „Mayonnaise“ vor uns öffneten. Und obwohl ich mit der Musik der 80er nie so richtig etwas anfangen konnte, weckten nun auch Bands wie The Cure mit „Wish“(1992) oder Depeche Mode mit „Songs Of Faith And Devotion“und „Ultra“mein Interesse.
Radiohead verfolgte ich seit ihrem Debütalbum „Pablo Honey“als ich nachts auf einem französischen Musiksender zum ersten Mal „Creep“hörte, aber mit „The Bends“und „OK Computer“ war klar, dass die Engländer eine der einflussreichsten Bands aller Zeiten für mich werden würden. Und wer hätte damals gedacht, dass ich zwanzig Jahre später mal in Glastonbury auf demselben Festival wie Thom York & Co spielen würde. Erst 2001 in einem Plattenladen in Padua entschloss ich mich endlich dazu Nick Drakes Compilation „Way To Blue“zu kaufen, womit sich bestätigte, was mir mit dem Kauf des Doppel-Live-Albums „A Cross A Wire“der Counting Crows immer klarer geworden war – und zwar, dass ich immer mehr diese akustische Musikrichtung einschlagen würde. Selbst wenn mich an Meisterwerken wie „Dummy“oder „Mezzanine“der Trip-Hop-Bewegung aus Bristol von Portishead und Massive Attack einfach nicht abhören konnte und es mich auch später immer wieder mit der Musik in die Banksy-Stadt verschlagen würde. Genauso beeindruckt blieb ich aber von heimischen Bands wie The Notwist mit „Neon Golden“, Garish mit „Wo die Nacht erzählt vom Tag“oder den Giardini di Mirò mit „Punk Not Diet“. Für unser neues Album „Lorca“, das im Frühjahr 2018 erschien, haben wir uns an den Klängen Yann Tiersens, Calexico, STS, Jaques Brel, und Beirut orientiert. Nun nach mehr als 700 LiveAuftritten in verschiedenen Clubs und auf diversen Festivals in ganz Europa kann ich mir ein Leben ohne Musik gar nicht mehr vorstellen und möchte auch nicht wissen, wo ich jetzt wäre, hätte ich damals nicht dieses blaue Album gehört: „Nevermind“.
Ist 37 Jahre jung, ein „Münchner Kindl aus der Au“und seit 1998 Sänger und Songwriter bei Sleepwalker’s Station, einem italo-deutsch-spanischen Indie Folk-Projekt, dessen aktuelles Album „Lorca“soeben für den „Preis der Deutschen Schallplattenkritik“nominiert wurde. Seit 2011 ist er im Prinzip immer unterwegs auf Tour, bei einem Schnitt von 150 Liveauftritten pro Jahr in ganz Europa. Die nächsten Konzerte in München sind am 1.8. im Rahmen des Free & Easy-Festivals im Backstage und am 5.9. im Bahnwärter Thiel.