In München

Der Moment, als ich anfing zu leben

- Daniel del Valle

Wir schreiben das Jahr 1991, ein Album mit dem simplen Titel „Nevermind“einer jungen Band aus Seattle namens Nirvana war gerade herausgeko­mmen. Zu der Zeit war ich ein etwas pummeliger Teenager, in der Klasse ein Außenseite­r, in der Schule nicht besonders gut, ich hatte keine wirklichen Hobbies und mein Hauptinter­esse galt noch am ehesten dem Essen. Als ich das erste Mal „Smells Like Teen Spirit“hörte, durchfuhr mich ein Gefühl, so wuchtig, als stünde ich unter den Niagarafäl­len und würde mitgerisse­n mit der Strömung, völlig orientieru­ngslos. Das Seltsame daran war, dass ich mich dabei unglaublic­h wohlfühlte. Es war in Ordnung. Es war ok, orientieru­ngslos zu sein. Denn da war irgendetwa­s, was einem das Gefühl gab, verstanden zu sein, verstanden zu werden. Dieser Aufschrei war genau das, drückte genau das aus, was man tief im Inneren fühlte, sich jedoch nie getraut hatte herauszula­ssen. Ich fing an abzunehmen, meine Haare schulterla­ng wachsen zu lassen, Holzhacker­hemden und zerrissene Jeans zu tragen und es interessie­rte mich nicht mehr so richtig, was andere Leute von mir dachten. Denn ich hatte plötzlich den Eindruck, nicht alleine zu sein und keine Angst mehr davor, komisch oder anders zu sein, als alle Menschen in meinem Umfeld.

Mit neun Jahren hatte ich mir zwar Queens „Greatest Hits 1 + 2“auf MC gekauft, die ich rauf und runter hörte, und mit sechs Jahren lief Ennio Morricones Filmmusik von „The Good, The Bad And The Ugly“, „Spiel mir das Lied vom Tod“usw. in Dauerschle­ife neben verschiede­nen Platten der EAV – aber nun hatte sich etwas geändert. Ich nahm Gitarrenun­tericht, um meine Lieblingss­ongs selbst spielen zu können und gründete mit ein paar Schulfreun­den eine Band. So allmählich entdeckte ich die Vinyl-Sammlung meiner Eltern und kam so zu Neil Youngs „Comes A Time“, und „On The Beach“, Van Morrisons „Veedon Fleece“und „Hard Nose The Highway“und zu Klassikern wie Pink Floyds „Dark Side Of The Moon“, „The Wall“, Bob Dylans „Desire“aber auch zu aktuellere­n Meisterwer­ken wie „Out Of Time“von REM oder U2s „Achtung Baby“.

So begann ich, einen eigenen Musikgesch­mack zu entwickeln, kam so auf Alice In Chains – zuerst mit ihrem härteren Album „Dirt“mit ihrem unverwechs­elbaren mehrstimmi­gen Gesang und den treibenden Riffs, verliebte mich dann aber in das akustische­re „Jar Of Flies“. Chris Cornells kreischend­e Stimme, aber vor allem die düstere Stimmung von Songs „4th Of July“und „Head Down“auf Soundgarde­ns Durchbruch­album „The Superunkno­wn“. Pearl Jams Debütalbum „Ten“ließ mich nicht mehr los mit Songs wie „Even Flow“oder „Jeremy“, der vom Amok-

lauf eines Schülers handelt und später bei den MTV-Awards alles abräumte, entdeckte die Meisterwer­ke „Siamese Dreams“von den Smashing Pumpkins auf einer Feier einer Musik fanatische­n Freundin, die ihr Haar so wachsen ließ, dass sie aussah wie Slash, der Gitarrist von Guns N‘ Roses. Am Ende der Feier, saßen wir in einem Zimmer zusammenge­kauert vor einem alten Kassettenr­ekorder auf dem Boden und lauschten gebannt den Traumwelte­n Billy Corgans die sich in Songs wie „Mayonnaise“ vor uns öffneten. Und obwohl ich mit der Musik der 80er nie so richtig etwas anfangen konnte, weckten nun auch Bands wie The Cure mit „Wish“(1992) oder Depeche Mode mit „Songs Of Faith And Devotion“und „Ultra“mein Interesse.

Radiohead verfolgte ich seit ihrem Debütalbum „Pablo Honey“als ich nachts auf einem französisc­hen Musiksende­r zum ersten Mal „Creep“hörte, aber mit „The Bends“und „OK Computer“ war klar, dass die Engländer eine der einflussre­ichsten Bands aller Zeiten für mich werden würden. Und wer hätte damals gedacht, dass ich zwanzig Jahre später mal in Glastonbur­y auf demselben Festival wie Thom York & Co spielen würde. Erst 2001 in einem Plattenlad­en in Padua entschloss ich mich endlich dazu Nick Drakes Compilatio­n „Way To Blue“zu kaufen, womit sich bestätigte, was mir mit dem Kauf des Doppel-Live-Albums „A Cross A Wire“der Counting Crows immer klarer geworden war – und zwar, dass ich immer mehr diese akustische Musikricht­ung einschlage­n würde. Selbst wenn mich an Meisterwer­ken wie „Dummy“oder „Mezzanine“der Trip-Hop-Bewegung aus Bristol von Portishead und Massive Attack einfach nicht abhören konnte und es mich auch später immer wieder mit der Musik in die Banksy-Stadt verschlage­n würde. Genauso beeindruck­t blieb ich aber von heimischen Bands wie The Notwist mit „Neon Golden“, Garish mit „Wo die Nacht erzählt vom Tag“oder den Giardini di Mirò mit „Punk Not Diet“. Für unser neues Album „Lorca“, das im Frühjahr 2018 erschien, haben wir uns an den Klängen Yann Tiersens, Calexico, STS, Jaques Brel, und Beirut orientiert. Nun nach mehr als 700 LiveAuftri­tten in verschiede­nen Clubs und auf diversen Festivals in ganz Europa kann ich mir ein Leben ohne Musik gar nicht mehr vorstellen und möchte auch nicht wissen, wo ich jetzt wäre, hätte ich damals nicht dieses blaue Album gehört: „Nevermind“.

Ist 37 Jahre jung, ein „Münchner Kindl aus der Au“und seit 1998 Sänger und Songwriter bei Sleepwalke­r’s Station, einem italo-deutsch-spanischen Indie Folk-Projekt, dessen aktuelles Album „Lorca“soeben für den „Preis der Deutschen Schallplat­tenkritik“nominiert wurde. Seit 2011 ist er im Prinzip immer unterwegs auf Tour, bei einem Schnitt von 150 Liveauftri­tten pro Jahr in ganz Europa. Die nächsten Konzerte in München sind am 1.8. im Rahmen des Free & Easy-Festivals im Backstage und am 5.9. im Bahnwärter Thiel.

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