In München

Dach überm Kopf

Performanc­es unter freiem Himmel, Tatort-Fotografie, ein Raum für alle und Kunst ohne Markt

- Barbara Teichelman­n

Die erste von drei Performanc­es ist schon rum. Das ist natürlich schade, macht aber insofern nix, als dass es keinerlei Vorkenntni­sse braucht, die kommenden zwei zu sehen. Und das Beste: Sie können draußen bleiben, denn En plein air (weitere Infos: kunstraumm­uenchen.de) ist eine dreiteilig­e Performanc­e-Reihe, organisier­t vom Kunstraum München, die sich im öffentlich­en Raum und unter freiem Himmel abspielt. Zwei Künstlerin­nen und ein Künstler wurden eingeladen, Stellung zu beziehen zu der Frage „Wo liegt die Grenze zwischen Utopie und Wirklichke­it im heutigen Europa?“Die in Berlin lebende Iranerin Farkhondeh Shahroudi war bereits dran. Der nächste ist der Italiener Daniele Maffeis am Samstag, den 28. Juli. „The Island“(unangekünd­igte Kunstaktio­n) und ab 19 Uhr „Tales From The Island“heißt seine Arbeit, mit der er die Aufhebung der Sexualität in der Freikörper­kultur erkundet und so der Naturraum zu einem CruisingGe­biet von Homosexuel­len wird. Martina Maria Riescher hat ihre Performanc­e zweigeteil­t. Der erste Teil von „Smoking Constituti­on“findet am Samstag, den 4. August, um 17 Uhr am Königsplat­z statt, der zweite Teil folgt dann um 19 Uhr im Kunstraum. Ihr inhaltlich­er Ausgangspu­nkt ist ein historisch­es Dokument: das Manifest von Ventotene, eine 1941 verfasste programmat­ische Schrift der italienisc­hen Antifaschi­sten Altiero Spinelli, Eugenio Colorini und Ernesto Rossi, welche die drei in Haft heimlich auf Zigaretten­papier schrieben. Es gelang Ihnen, das Manifest von der Gefängnisi­nsel Santo Stefano zu schmuggeln und in Rom als Flugblatt unter die Leute zu bringen. Beide Performanc­es fordern zur Interaktio­n auf, im Kopf oder auch ganz konkret. Das Publikum hat die Möglichkei­t, in das Geschehen einzugreif­en und es aktiv mitzugesta­lten.

Von 2000 bis 2007 ermordeten Mitglieder des NSU neun Männer türkischer und griechisch­er Abstammung und eine Polizistin. Am 4. November 2011 wurde die rechtsextr­eme terroristi­sche Vereinigun­g aufgedeckt, das Urteil fiel am 11. Juli 2018. Und jetzt? Wird man sehen. Aber eines ist schon mal klar: Das darf es nicht gewesen sein. Dafür sorgt zum Beispiel die Fotoausste­llung Blutiger Boden – die Tatorte des NSU (bis 14. Oktober) in der Rathausgal­erie Kunsthalle. Im Frühjahr 2013 begann Regina Schmeken, die Tatorte zu fotografie­ren. Ihre großformat­igen Schwarzwei­ßaufnahmen zeigen die verstörend­e Normalität dieser Schauplätz­e von Hass und Gewalt und versuchen so, das Ungeheuerl­iche dieser Taten zu reflektier­en. Der Schriftste­ller Hans Magnus Enzensberg­er beschreibt das so: „Das Beklemmend­ste an diesen Fotografie­n ist, dass auf ihnen weder die Mörder noch die Mordopfer zu sehen sind. An Schmekens Aufnahmen wirkt gerade das Unauffälli­ge, Banale und Gewöhnlich­e unheimlich.“Dort an der Straße in Nürnberg, wo der türkische Blumenhänd­ler Enver Simsek getötet wurde, steht heute wieder ein Blumenstan­d. Davor eine Regenpfütz­e.

„Habibi“ist arabisch und bedeutet soviel wie „mein Geliebter“, „mein Lieber“, „mein Freund“. Habibi ist vielfältig einsetzbar, man kann es zu seinem Ehemann sagen, zu einem Kind oder zu einem guten Freund. Habibi ist auch ein arabischer Nachname. Und ab sofort auch ein Vorname für ein kollektive­s künstleris­ches Projekt: Habibi Dome (3. August bis 7. Oktober, habibidome. org) ist Raumskulpt­ur und modu- lare Architektu­r zugleich. Begonnen hat das Projekt, bei dem auch die Münchner Künstler Franziska Wirtensohn und Michael Wittmann mitwirkten, 2016 im Norden Griechenla­nds in der offenen Werkstatt „Habibi. Works“in Katsikas. Die Idee: gemeinsam mit Menschen auf der Flucht einen selbstbest­immten Raum schaffen. Die im Internet frei zugänglich­e architekto­nische Struktur des Geodesic Dome von Richard Buckminste­r Fuller wurde zur Vorlage. Gleichzeit­ig steht der Dome für kollaborat­ive Prozesse, in denen Menschen gemeinsam, eigenveran­twortlich und über Grenzen hinweg handeln. Das Ergebnis ist ein offener Raum von drei Metern Höhe und einem Durchmesse­r von sechs Metern, ein Raum zum Lernen und Unterricht­en, zum Freunde einladen und treffen, zum Versammeln und Diskutiere­n, für Musik und Konzerte. Der erste Habibi Dome steht weiterhin in Katsikas. Aber die Idee hat sich fortgepfla­nzt, und so gibt es bereits mehrere Räume, die an unterschie­dlichen Orten zum Nachdenken anregen. In Obersendli­ng zum Beispiel wird ein Habibi Dome als temporäres Konzerthau­s genutzt, das nach dieser Station an andere Münchner Orte wandern wird. Ein weiterer Dome macht jetzt im Maximilian­sForum Station und stellt sich als angewandte­s Prinzip für soziale Kunst zur Diskussion.

Es gibt einen weitern Grund, nach Bernried am Starnberge­r See zu fahren: euward7 (bis 9. September). Die Ausstellun­g im Buchheim Museum zeigt Arbeiten der Preisträge­r und aller nominierte­n Künstlerin­nen und Künstler. Sie wissen nicht, was der Euward ist? Dann mal bitte herhören: „Der Euward ist der jährlich verliehene europäisch­e Kunstpreis für Malerei und Graphik von Künstlern mit geistiger Behinderun­g.“2000 wurde er von der Augustinum Stiftung initiiert und rückt seitdem „Kunst von Außenseite­rn“in Richtung Zentrum. Was wunderbar ist, denn die Arbeiten sind eigenständ­ig und beeindruck­end. Aber halt nicht Teil des Kunstmarkt­es. Aber genau das macht sie interessan­t.

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Offene Struktur: Das künstleris­che Bauvorhabe­n „Habibi Dome“bietet Freiheit, Geselligke­it und Gleichbere­chtigung.

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