Milo & Elucid
Dass der soeben vergangene Sommer ein Prachtexemplar eines solchen war, merkt man (auch) an gewissen Überdosierungen. Kein Seestrand, kein Flussufer, keine Freibadliegewiese, wo man nicht dauerbeschallt wurde mit Cloud Rap und seinen verästelten Ablegern: billige Tickerbeats, simples Synth-Geplömpel, mit Autotune auf Plastik gestyltes Geplapper über (überhöht ausgedrückt) Identitäten und Gegenständlichkeiten. Eigentlich, sollte man meinen, ist damit der Hip- Hop-Bedarf für mindestens ein Jahr gedeckt und ein Interesse an noch mehr nicht zu wecken. Falsch. Was in dem unablässigen Gezicker und Genöle fehlt, fällt dann auf, wenn plötzlich Stille da ist und ein Loch, in dem sich unbemerkt ein ungeheurer Hunger nach SINN gebildet hat, nach Aufrichtigkeit, Reflexion, Stil, Wortmelodie und Tiefe, auch nach originellen Beats, Sounds, einem Klanguniversum, das nach oben, unten und seitwärts, nach vorne und hinten über das omnipräsente sonische Alublech hinausreicht und Bilderwelten öffnet, Gefühle weckt, Erinnerungen gebiert z. B. (aber nicht nur) an die Momente, in denen man Tracks zum ersten Mal gehört hat. Auftritt Rory Ferreira (aka Milo), Chefphilosoph und Assoziationshirn des US-Art-Rap, dem es bekanntermaßen (vgl. „Who Told You To Think??!!?!?!?!“vom letzten Jahr) wie niemandem sonst gelingt, bratzig potente SelbstDarstellung, intellektuellen Witz, sprachliche Klarschärfe und metaphysisch lichtes Grübeln zu einem Denk- und Erzählfluss zu vereinen, der einen unwillkürlich aufhebt, mitträgt und im anderen Sinne aufhebt, so dass man am Ende ein anderer Mensch ist als eingangs: irgendwie weiser, gelassener, glücklicher, gesalbt mit einer Art Magie, die nur (solche) Musik (be)wirken kann. Auftritt Elucid, fast zehn Jahre älter als Milo und das ideale Gegenstück in dem Sinn, dass sein Blick und seine Erzählweise im besten Sinne handfest-gegenständlich ist. Sein Hirn und seine Stimme verwandeln zufällige Geschichten über Armut, alltäglichen Rassismus, Hass und sinnliche Leere in archetypische Fabeln, die jeder verstehen kann, ohne die verstrickten Einzelheiten nachvollziehen zu müssen. Die Schattierung von Verzweiflung, die sein Vortrag ausstrahlt, materialisiert die Aggression unseres wirren, verfahrenen Daseins in einer wirren, verfahrenen Welt zu einem komprimierten Strang, einem Block, der Luft und Raum macht für Milo, der darin flattern, schweben und fliegen und seine Blitzideen flattern, schweben und fliegen lassen kann, ohne sich selbst einen Anker setzen zu müssen, der ihn festigt, erdet und zugleich hindert. Klanglich ist „Nostrum Grocers“ein ideal ausgewogenes Gesamtgemälde, in dem sich laut/leise, spitz/rund, komprimiert/diffus, scharf/samten, bedrohlich/schwerelos so ungezwungen ergänzen, daß ein echter Kosmos ersteht, aus dem nichts unangemessen (!) hervorsticht, in dem die Stimmen selbst Teil der Musik werden. Der seltene Fall eines Hip-HopAlbums, in das man einen Tag tauchen, in dem man auch baden kann, ohne auf die Worte zu achten. Die stehen – vom Album- über sprechende Tracktitel wie „Peace Is The Opposite Of Security“bis hin zu blinkenden Zeilenfetzen wie „specialization is tyrannical, most certainly in my egg carton palace“– dennoch im Zentrum, bilden das Herz des Ganzen. „Greatness is to act with no security“– dieser zentralen, den Großteil der sonstigen Hip-Hop-Produktionen unserer Zeit als minder entlarvenden Erkenntnis gemäß ist es am Ende nicht mehr erstaunlich, daß Milo sein bestes Album nicht alleine, sondern nur in dieser Doppelung und Verbindung schaffen konnte.