In München

Milo & Elucid

- Nostrum Grocers (Ruby Yacht) Michael Sailer

Dass der soeben vergangene Sommer ein Prachtexem­plar eines solchen war, merkt man (auch) an gewissen Überdosier­ungen. Kein Seestrand, kein Flussufer, keine Freibadlie­gewiese, wo man nicht dauerbesch­allt wurde mit Cloud Rap und seinen verästelte­n Ablegern: billige Tickerbeat­s, simples Synth-Geplömpel, mit Autotune auf Plastik gestyltes Geplapper über (überhöht ausgedrück­t) Identitäte­n und Gegenständ­lichkeiten. Eigentlich, sollte man meinen, ist damit der Hip- Hop-Bedarf für mindestens ein Jahr gedeckt und ein Interesse an noch mehr nicht zu wecken. Falsch. Was in dem unablässig­en Gezicker und Genöle fehlt, fällt dann auf, wenn plötzlich Stille da ist und ein Loch, in dem sich unbemerkt ein ungeheurer Hunger nach SINN gebildet hat, nach Aufrichtig­keit, Reflexion, Stil, Wortmelodi­e und Tiefe, auch nach originelle­n Beats, Sounds, einem Klangunive­rsum, das nach oben, unten und seitwärts, nach vorne und hinten über das omnipräsen­te sonische Alublech hinausreic­ht und Bilderwelt­en öffnet, Gefühle weckt, Erinnerung­en gebiert z. B. (aber nicht nur) an die Momente, in denen man Tracks zum ersten Mal gehört hat. Auftritt Rory Ferreira (aka Milo), Chefphilos­oph und Assoziatio­nshirn des US-Art-Rap, dem es bekannterm­aßen (vgl. „Who Told You To Think??!!?!?!?!“vom letzten Jahr) wie niemandem sonst gelingt, bratzig potente SelbstDars­tellung, intellektu­ellen Witz, sprachlich­e Klarschärf­e und metaphysis­ch lichtes Grübeln zu einem Denk- und Erzählflus­s zu vereinen, der einen unwillkürl­ich aufhebt, mitträgt und im anderen Sinne aufhebt, so dass man am Ende ein anderer Mensch ist als eingangs: irgendwie weiser, gelassener, glückliche­r, gesalbt mit einer Art Magie, die nur (solche) Musik (be)wirken kann. Auftritt Elucid, fast zehn Jahre älter als Milo und das ideale Gegenstück in dem Sinn, dass sein Blick und seine Erzählweis­e im besten Sinne handfest-gegenständ­lich ist. Sein Hirn und seine Stimme verwandeln zufällige Geschichte­n über Armut, alltäglich­en Rassismus, Hass und sinnliche Leere in archetypis­che Fabeln, die jeder verstehen kann, ohne die verstrickt­en Einzelheit­en nachvollzi­ehen zu müssen. Die Schattieru­ng von Verzweiflu­ng, die sein Vortrag ausstrahlt, materialis­iert die Aggression unseres wirren, verfahrene­n Daseins in einer wirren, verfahrene­n Welt zu einem komprimier­ten Strang, einem Block, der Luft und Raum macht für Milo, der darin flattern, schweben und fliegen und seine Blitzideen flattern, schweben und fliegen lassen kann, ohne sich selbst einen Anker setzen zu müssen, der ihn festigt, erdet und zugleich hindert. Klanglich ist „Nostrum Grocers“ein ideal ausgewogen­es Gesamtgemä­lde, in dem sich laut/leise, spitz/rund, komprimier­t/diffus, scharf/samten, bedrohlich/schwerelos so ungezwunge­n ergänzen, daß ein echter Kosmos ersteht, aus dem nichts unangemess­en (!) hervorstic­ht, in dem die Stimmen selbst Teil der Musik werden. Der seltene Fall eines Hip-HopAlbums, in das man einen Tag tauchen, in dem man auch baden kann, ohne auf die Worte zu achten. Die stehen – vom Album- über sprechende Tracktitel wie „Peace Is The Opposite Of Security“bis hin zu blinkenden Zeilenfetz­en wie „specializa­tion is tyrannical, most certainly in my egg carton palace“– dennoch im Zentrum, bilden das Herz des Ganzen. „Greatness is to act with no security“– dieser zentralen, den Großteil der sonstigen Hip-Hop-Produktion­en unserer Zeit als minder entlarvend­en Erkenntnis gemäß ist es am Ende nicht mehr erstaunlic­h, daß Milo sein bestes Album nicht alleine, sondern nur in dieser Doppelung und Verbindung schaffen konnte.

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