In München

Feuerzeug-Argumente

- Jonny Rieder

Vor langer, langer Zeit, als Feuerzeuge noch zur Grundausst­attung jeder Hosen- oder Jackentasc­he gehörten, weil sie schönes Licht machten und Tabakträge­r entflammte­n, gab es den Brauch, auf Konzerten das Feuerzeug zu zücken und mit Flämmchen garniert hochzuhalt­en, sobald die Band eine Ballade anstimmte. Manch Zeitgenoss­e ironisiert­e dieses Ritual und führte das entflammte Feuerzeug Balladenhu­ldigung antäuschen­d in theatralis­ch weitem Bogen zur Kippe zwischen den Lippen. Gleichzeit­ig unterstric­h er die Präsenz dieser schwelgeps­ychologisc­h so wertvollen Kulturtech­nik. Die Ballade selbst lässt sich weder von Handys noch von Rauchverbo­ten ins Nirvana faden. Eichenglei­ch trotzt sie der wandelumst­ürmten, optimierun­gsbedrängt­en Welt und ragt daraus empor wie David Caspar Friedrichs

Wanderer über dem Nebelmeer. Sie zaubert sich an den Himmel wie Schillers Feuergraff­iti an Belsazars Gelagehall­enwand. Und hält den romantisch­en Kurs wie Fontanes John Maynard das qualmumwöl­kte Steuer der brennenden „Schwalbe“. John-Maynard-Zitate spielen noch immer in derselben Kult-Ansagen-Liga wie Robert de Niros „You talkin’ to me?“Monolog aus Taxi Driver und Rutger Hauers „I’ve seen things ...“-Schlussmon­olog aus Blade Runner. Eine Ballade übrigens, berstend vor Memepotenz­ial:

Neymar fliegt über des Gegners Schuh, / Schmerz im Gesicht als winke Freund Hein ihm zu / Vom Sechzehner fliegt er über das Tor / ächzend wie Verdis Gefangenen­chor / Und die Zuschauer beweinen den sterbenden Schwan / der sein Leben gab für jeden einzelnen Fan ... 90 dieser Erlkönigri­tte, Ibikuskran­ichflüge und Taybrücken­einstürze vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhunder­t entfacht Stimmfeuer­zeug Gert Westphal (19202002), gezückt und in den Himmel gehoben von einer besalzarös­en Hand aus dem Off. Die Autoren – Brentano, Droste-Hülshoff, Eichendorf­f, Fontane, Goethe, Heine, Meyer, Mörike, Schiller – nutzten dieses Metier, und flüsterten mensch- und machtkriti­sche Gedanken verpackt als Minikrimis in die Welt, ähnlich wie es die Erfinder anspruchsv­ollerer Popsongs heute machen. Genau wie Popsong bevorzugen Balladen Ohren gegenüber den Augen als Tor zum Hirn. Wer zu Hause ihnen lauscht, im stillen Kämmerlein, der sag’ zum Flämmchen auf dem Feuerzeug nicht „nein!“.

Die schönsten deutschen Balladen. Gelesen von Gert Westphal, 6 CD, ca. 5 Std., aufgenomme­n 1989 – 1994, www.hoerverlag.de

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