Kindeswohl
„Kindeswohl“von Richard Eyre
Fiona Maye (Emma Thompson) ist eine renommierte Familienrichterin am Londoner High Court. Sie verhandelt überwiegend heikle Familienangelegenheiten. Mit ihrer Kompetenz hat sich die verheiratete, kinderlose Juristin einen Namen gemacht. Denn ihr Beruf ist für sie Berufung. Ihre Ehe jedoch leidet darunter. Wieder einmal sitzt sie am Wochenende abends zuhause und studiert ihre Akten. „Kommst Du“, versucht ihr Mann Jack (Stanley Tucci) sie ins Bett zu locken. Frustriert wartet er auf eine Reaktion von ihr. Geistesabwesend verweist sie auf ihre Arbeit. Diesmal steht sie im Fall des 17jährigen Adam Henry (Fionn Whitehead) vor der Frage, ob Eltern die Therapie ihres kranken Sohnes richterlich verordnet werden darf, wenn ihre Religion es verbietet. Der junge Mann ist an Leukämie erkrankt. Seine Eltern verweigern als Zeugen Jehovas die lebensrettende Bluttransfusion. Vor Gericht trifft sie am nächsten Tag eine unkonventionelle Entscheidung. Fiona unterbricht die Verhandlung, setzt sich ins Auto und fährt zu Adam ins Krankenhaus. Dort trifft sie auf einen hochintelligenten, sensiblen jungen Mann, der Gedichte schreibt, Gitarre spielen lernt und genau zu wissen scheint, was er tut. Rhetorisch gewandt, hellwach, trotz seines Zustands. Schließlich spielt er „Beim Weidengarten unten“, nach einem Gedicht von William Butler Yeats. Fiona kann nicht anders als mitzusingen. Sie liebt dieses Lied. Der intime Moment ist für beide sehr emotional. Die sonst so professionelle Frau ringt um Fassung. Schnell verabschiedet sie sich. Ein Damm scheint gebrochen. Zurück im Gerichtssaal verkündet sie: Adam soll leben. Der Junge „muss vor seiner Religion und vor sich selbst geschützt werden“. Eine folgenschwere Entscheidung, die ihr Leben fast auf den Kopf stellt. Nicht zuletzt, weil ihr Mann ihr kurz danach offen ins Gesicht sagt, dass er vorhat, sich eine Affäre zu gönnen. Das bewegende und exzellent gespielte Justiz- und Ehedrama nach dem gleichnamigen Bestseller von Ian McEwan behandelt das komplexe Thema klug und packend. Vor allem die zweifache Oscar-Preisträgerin Emma Thompson hebt die gradlinige Inszenierung auf ein erstaunliches Niveau. Zusammen mit Stanley Tucci als Partner beherrscht die begnadete Charakterdarstellerin mit ungeheurer Präsenz die Leinwand. Jede Minute ist sehenswert, jede Geste, jeder Blick ihres ausdrucksstarken Gesichts. Beeindruckend zeigt sie unter welchem Druck insbesondere Frauen in diesem Beruf stehen, der immer noch hauptsächlich der Männerwelt vorbehalten ist. Dass eine ambitionierte Frau, die mit ihrer Arbeit verheiratet ist, nicht unbedingt auf Verständnis ihres Ehemanns stößt, ist die eine Sache. Wie viele Frauen freilich mit solchen Workaholics klaglos verheiratet sind, eine andere. Doch Stanley Tucci, Meister seines Fachs und Hollywoods König der Nebenrollen, kann sich erlauben, der Heldin ins Gesicht sagen, dass er sie betrügen wird. Trotzdem verliert er damit nicht die Sympathie des Publikums. Und dass Bestsellerautor Ian McEwan das Drehbuch verfasste, war sicher hilfreich für das bildstarke, intensive Drama.