In München

Leave No Trace

„Leave No Trace“von Debra Granik

- Frank Arnold

Nein, das ist kein Wochenenda­usflug. Für den Mann und das Mädchen, die sich mit großer Selbstsich­erheit durch tiefe Wälder bewegen, ist dies eine selbst gewählte Lebensform am Rande der Gesellscha­ft: der Kriegsvete­ran Will und seine dreizehnjä­hrige Tochter Tomasin haben sich schon seit mehreren Jahren in den Wäldern eines Nationalpa­rks in Oregon häuslich eingericht­et. Für Thoma- sin, deren Mutter früh gestorben ist, ist dieser Zustand die Normalität, auch wenn sie der gelegentli­che Weg in die Stadt mit dem Einkaufen im Supermarkt und der Abholung jener Schmerzmit­tel, die die posttrauma­tische Depression des Vaters lindern sollen, von Zeit zu Zeit in Kontakt mit der Zivilisati­on bringt. Als die Polizei sie aufgreift, sesshaft macht und Thomasin in die Schule kommt, krempelt das ihr Leben um – genau das, was der Vater nicht will, während sie sich an den Kontakt mit anderen gewöhnt. Schon bald drängt Will wieder zum Aufbruch. Dass es etwas zwischen dem angepasste­n Leben in der normalen Gesellscha­ft und dem Leben in den Wäldern geben kann, erschließt sich den beiden, als sie Aufnahme in einer landwirtsc­haftlichen Gemeinscha­ft finden, wo der verletzte Vater gesund gepflegt wird. Aber dessen Auffassung­en sind bereits verhärtet, so dass er kaum das Gute sehen kann. Bleibt die Frage, wann seine Tochter darauf pochen wird, ihr eigenes Leben zu leben? Väter, die ihren Nachwuchs außerhalb der Gesellscha­ft auf ihre eigene Art und Weise erziehen, hat es im unabhängig­en US-Kino der letzten Jahre öfter gegeben, Woody Harrelson in „Schloss aus Glas“oder Viggo Mortensen in „Captain Fantastic“. Anders als sie wird der Vater hier nie zum Tyrannen, der seine Tochter mit Worten oder gar mit körperlich­em Zwang auf Linie bringt. Das ist umso erstaunlic­her, als dieser Vater besetzt ist mit Ben Foster, der in vielen Filmen (zuletzt etwa in „Feinde – Hostiles“und in „Hell and High Water“) Männer verkörpert hat, die dazu neigen, leicht zu explodiere­n und deren angestaute Wut sich in Gewaltexze­ssen entlädt. Vielmehr herrscht hier zwischen Vater und Tochter eine große Nähe, eine absolute Vertrauthe­it. Die kann man als den Kern des Films bezeichnen, gilt sie doch auch für das Zurechtfin­den der beiden in der Natur, mit all den notwendige­n Handgriffe­n, die ihnen ihr Überleben sichern – und genauso trifft es zu auf die Vertrauthe­it der Filmemache­rin mit ihren Figuren. Wie schon im Vorgänger „Winter’s Bone“(und auch in dem dazwischen entstanden­en Dokumentar­film „Stray Dog“) erweist sich die Regisseuri­n Debra Granik als Ethnografi­n, die in fremde Gemeinscha­ften (die doch im eigenen Land existieren) eintaucht und deren Eigenheite­n mit genauem Blick einfängt. Während „Winter’s Bone“dabei auch durch die erzähleris­che Konvention des Zeitdrucks geprägt war, der auf der Mission der jungen Protagonis­tin lastete und damit an Genremotiv­e anknüpfen konnte, lässt „Leave No Trace“dies hinter sich und erzählt ganz entspannt. Das mag für den Zuschauer auf den ersten Blick eine Herausford­erung sein, aber wer sich darauf einlässt, wird mit einem einzigarti­gen Film belohnt.

 ??  ??
 ??  ?? Vater und Tochter: eng vertraut
Vater und Tochter: eng vertraut

Newspapers in German

Newspapers from Germany