Anarchie und Architektur
Zwei neue Comics sorgen für anspruchsvollen Lesegenuss
Es muss eine spannende Zeit gewesen sein: Der Bücherdieb (Reprodukt) von Alessandro Tota und Pierre van Hove ist im Paris der1950er Jahre angesiedelt. Sartre, Genet, Camus und Simone de Beauvoir gaben literarisch den Ton an, aber für viele junge Wilde waren diese bereits zu bourgeois, auch die Kunstform der Literatur sowie geregelte Arbeit wurden bei der anarchistischen Avantgarde abgelehnt. Der junge und mittellose Student Daniel Brodin tummelt sich in den Cafés des Künstlerviertels Saint-Germain-des-Prés, fest entschlossen Dichter zu werden. Vorerst aber beschränkt sich die Beschäftigung mit Prosa und Poesie auf das Lesen und weil Bücher teuer sind, Daniel aber wenig Geld hat, klaut er sie. Durch Zufall gelangt er eines Abends in einen Kreis „junger, von der Nacht erschöpfter Dichter“und ein paar etablierter Literaten. Als er angehalten wird, etwas vorzutragen, übersetzt er aus dem Stehgreif ein italienisches Gedicht namens „Die Hirtenhündin“aus einer Sammlung von Versen geisteskranker Poeten aus der Po-Ebene und gibt es als sein eigenes Werk aus. Fast niemand bemerkt den Schwindel, Brodin erntet großen Applaus und einer Zukunft in den literarischen Kreisen der Stadt würde eigentlich nichts mehr im Wege stehen. Doch dann trifft er auf eine Gruppe von Avantgardisten, Trinkern und Dieben, die mit kriminell-anarchistischen Aktionen, der „wahren Kunst“, die Gesellschaft verändern wollen ... Szenarist Tota und Zeichner van Hove erzählen hier vor dem Hintergrund eines legendären Jahrzehnts eine wunderbare und sehr stimmig gezeichnete Hochstaplergeschichte, die bei offenem Ende fast nach einer Fortsetzung verlangt. Architektur im Comic hat seit den modernistischen Städte- und Häuseransichten von so unterschiedlichen Künstlern wie Chris Ware oder François Schuiten eine gewisse Tradition. Mit Der Magnet (Edition Modern) ist dem 1990 in Paris geborenen Autor und Zeichner Lucas Harari nun ein besonders schönes und spannendes Beispiel dafür gelungen, moderne Architektur mit einer spannenden alpinen Legende zu verbinden. Pierre, ein ehemaliger Architekturstudent reist, angezogen von der Therme des Stararchitekten Peter Zumthor, nach Vals und erlebt dort eine äußerst mysteriöse und auch nicht ganz ungefährliche Geschichte, die sein Leben für immer verändern wird.