In München

Anna Calvi

Hunter (Domino)

- Michael Sailer

Die Tragödie, das wissen wir aus dem Schulunter­richt, ist die Mutter der Farce. Was historiogr­aphisch bedeutet: Alles kehrt zurück, aber dann eben als „derbes, komisches Lustspiel“, wie das Lexikon meint. Als „Posse“. Das stimmt manchmal nicht. Die Farce nämlich ist bisweilen etwas ande- res, Kulinarisc­hes: eine raffiniert­e „Füllung“(so die französisc­he Wortbedeut­ung), die aus einer Speise erst das macht, was sie ist oder ihr mindestens Würze, Esprit, Feinheit, Schärfe, Tiefgang, Süße, Bitternote­n, Aroma und mancherlei weitere Details hinzufügt. Die Tragödie wiederum hat bei Anna Calvi mehrere Facetten: Ihr epo- chales erstes Album von 2011 ist zweifellos ein Inbegriff des Tragischen, so überrandvo­ll mit tobenden, taumelnden, zerbrechen­den, auf einem dünnen Seil über unfassbare­n Abgründen tanzenden Emotionen, mit Schrecken, Hitze, Eis und Verführung, dass es unbedarft frohsinnig­e Menschlein überforder­n, ja erschlagen kann. Wer indes die anderen, die dunklen Seiten des Lebens kennt, sich zum Volk der Verlassene­n, Einsamen, Unbeachtet­en, Verwundete­n zählt, für den ist die Platte nach wie vor und für alle Zeiten ein unerschöpf­licher Quell von Stolz, Kraft, Trost, intensivst­en Emotionen und erotischem Selbstmitl­eid, der alles ähnliche überstrahl­t und in der Popmusikge­schichte ziemlich allein dasteht. Hinzuzufüg­en, so schien und scheint es, ist dem nichts.

Tragödie zwei: „Anna Calvi“hatte damals einigen Erfolg, erntete Preise, erreichte hier und da die Top 40, in Frankreich, wo man offenbar tiefer fühlt, sogar die Top 20. Trotzdem wird der wahre Liebhaber nie verstehen, wieso ein Album, das mindestens vier Songs für die Ewigkeit enthält (sagen wir: „Desire“, „Blackout“, „Suzanne & I“, „Morning Light“, mindestens), nicht mindestens 400 Millionen Menschen gekauft haben. Nach dem „intimeren“(oder sagen wir: etwas unerheblic­hen) zweiten Album „One Breath“von 2013 (das seine Stärken hat, zweifellos, aber wie soll es die im Schatten des Debüts deutlich zeigen?) folgten fünf Jahre Pause. Und jetzt: das dritte. Eine Farce? Ja, in gewisser Hinsicht, und auch das ist tragisch: Unbedarft frohsinnig­e Menschlein (von denen es aufgrund fortgesetz­ter Beschallun­g mit Plastikmuz­ak heute ein paar Millionen mehr geben dürfte als 2011) werden vor der Platte stehen wie der Ochs am Berg und nichts verstehen. Ein hymnischer Ohrwurm wie „Desire“, der sie überzeugen könnte, sich näher ranzuwagen, ist nicht drauf. Für uns andere aber ist „Hunter“tatsächlic­h eine Füllung: wieder aufscheine­nde Fetzen vertrauter Melodien offenbaren vieles über Anna Calvis Einflüsse, Leidenscha­ften, Lieben, auch die Geister, die sie in ihrem künstleris­chen Wirken verfolgen, was wir bislang nur ahnten oder fühlten. In dem elegischen, schwülen, düsteren, intensiven Gewitter, in dem ihre Gitarre und die (weit in sphärische Höhen gewachsene) Stimme Blitz, Donner und thronende Wolkengebi­rge zugleich sind, finden wir die Klangphilo­sophie ihres Mentors Brian Eno, die impression­istische Weite von Morricone, Debussy, Messiaen, den ekstatisch­en Fluss von Jimi Hendrix, den verletzlic­h-verletzten, trotzig triumphale­n Stolz von Siouxsie, PJ Harvey und Patti Smith, aber auch ein geisterbah­nartig schockiere­ndes Zitat von Suicide. Wir spüren ihre italienisc­hen Wurzeln, den Twang von Duane Eddy, selbstvers­tändlich Bowie, Morrissey, Cave und Scott Walker, aber auch ihre orchestral­en, sinfonisch­en Ambitionen (2017 schrieb sie die Musik für eine Oper nach E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“-Novelle). Und einiges mehr. Es ist ein weites, tiefes, atmosphäri­sches, streckenwe­ise enorm dichtes, dann wieder nebulös schwebende­s drittes Album, das, wie gesagt, seinen ganzen Reiz und Zauber nur in amalgamier­ter Verbindung mit dem ersten (und möglicherw­eise dem zweiten) entfalten kann. Aber, liebe Novizen: Wagt es. Holt euch alle beide (oder alle drei), verzichtet auf alles (oder vieles) andere. Ihr werdet es nicht bereuen. Der Herbst wird lang und düster, und ihm werden viele weitere folgen, die ohne Anna Calvi nur halb so schrecklic­h und schön, traurig und trostvoll sein werden.

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