BELÄSTIGUNGEN
Migration, ließ der Innenminister neulich verlauten, sei „die Mutter aller politischen Probleme“. Bei all dem garstigen Sprechschaum, der aus Ministern gewöhnlich herausfurzt, ist es erfreulich, mal eine Aussage zu hören, die wahr ist. Tatsächlich gäbe es ohne Migration keine politischen Probleme. Es gäbe nicht mal eine Politik. Bayern (z. B.) wäre eine herrlich florierende und faunierende Landschaft, frei von Neophyten wie dem Homo sapiens, weil es Affen, die sich durch fortlaufende Hirnschrumpfung zu potentiellen CSU-Wählern evolvieren hätten können, hier nie gab. Selbst wenn wir die ersten Äonen menschlicher Migration außer acht lassen und uns nur den letzten drei Jahrtausenden zuwenden, bleibt die Aussage richtig: So gut wie jedes politische Problem ging und geht letztlich darauf zurück, daß unendlich viele Wellen von Zuwanderung über den Erdball hinweggeschwappt sind. Ich habe an dieser Stelle schon mal darauf hingewiesen, daß mit ziemlicher Sicherheit kein heutiger Bewohner der bayerischen Gefilde von sich behaupten kann, vor 3.000 Jahren habe ein Urvater seiner Sippe da gelebt, wo er heute in sein Smartphone starrt. Man könnte einwenden, daß möglicherweise auch die Ureinwohner unserer Lande irgendwann auf die Idee gekommen wären, eine CSU zu gründen. Und daß so gut wie jedes politische Problem – Überbevölkerung, Krieg, Autowahn, Naturzerstörung, Armut, Hunger, Reichtum, Ausbeutung usw. usf. – auf eine einzige Ursache zurückgeht: auf die menschliche Fähigkeit zu Neid, Gier, Haß und ihre infernalische moderne Ausgeburt, den Kapitalismus. Ist der etwa auch eine Folge der Migration? Eher nicht. Eher ist es so, daß praktisch jede Zu- und Auswanderung der letzten 400 bis 500 Jahre eine ziemlich direkte Folge dessen war, was dieser ungeheure Prozeß von Wachstum und Vernichtung „gefordert“hat. Werfen wir einen zufälligen Blick zurück: 1970 lebten auf der Erde knapp 3,7 Milliarden Menschen, davon 2,1 % in den beiden Ländern, die das Wort „deutsch“im Namen führten (und 0,3 % in Bayern), darunter 3,25 % „echte“Ausländer. In den meisten von Unionsparteien regierten Bundesländern saßen Abgeordnete der NPD (die meisten in Bayern), dennoch galt Migration nicht mal unter Nazis als Problem – die wollten ihr Großdeutschland zurück und waren sich darin mit CDU/CSU und anderen Parteien weitgehend einig. Selbst in Lexika fehlte der Begriff „Migration“. Flüchtlinge hingegen waren bekannt: 20 Millionen davon waren in den 25 Jahren zuvor nach Deutschland eingewandert; ein knappes Drittel der Bevölkerung war „fremd“. Politische Diskussionen und Auseinandersetzungen drehten sich jedoch fast durchweg um Emanzipation und Befreiung. Man feierte Revolutionäre, wollte Ausbeutung, Unterdrückung, Manipulation, Konformität und Verblödung abschaffen, stellte die Privilegien alter und neuer Eliten in Frage, streikte an Schulen, Unis und in Betrieben für Mitbestimmung und Teilhabe und schrieb in politische Lehrbücher Sätze wie diesen: „Die Demokratie kann nicht voll funktionieren, solange in der Wirtschaft praktisch eine Diktatur (...) herrscht.“Freilich gab es, besonders in Bayern, Dumpfbürger, die am Stammtisch dimpfelten und statt Freiheit lieber ihren Kini oder Führer wiederhaben wollten. Die galten aber als rückständig, ewiggestrig, hoffnungslos. Ihr stures Beharren auf Befehlsstrukturen und einer hierarchischen Zwangsgesellschaft führten Soziologen auf Angst zurück, um ihr Geld und anderes, von dem sie wußten, daß es ihnen eigentlich nicht zustand. Heute: leben in Deutschland nicht mehr 2,1, sondern 1,1 % der Weltbevölkerung, in Bayern nicht mehr 0,3, sondern 0,2 %. Die Gesamtzahl der Ausländer und Flüchtlinge beträgt nicht mehr 22,5, sondern 10,6 Millionen. In den Länderparlamenten sitzt eine neue Nazipartei, aber alles andere hat sich gründlich verändert: Vom Vorschüler bis zum Pflegerentner ist jeder komplett in ein Zwangssystem eingeordnet, das auf absolutem Wettbewerb beruht. Schulen und Universitäten sind zu Drillanstalten für marktkonformes Humankapital verkommen. Die Privilegien der Eliten, deren Macht und Reichtum explosionsartig wachsen, stellt keiner mehr in Frage. An die Stelle der selbstbewußten Arbeiterklasse ist eine entwurzelte, total unterworfene Ameisenklasse getreten, die das, was ihr mit Zwang nie jemand zufügen konnte, freiwillig sich selbst zufügt. Man schuftet ohne Bezahlung, leidet Depressionen, wenn man das nicht darf, verbringt den Rest seiner Lebenszeit damit, in Smartphones zu starren, zelebriert die Spießigkeit des Biedermeier, deformiert den Körper zur stahlfitten Kampfmaschine, stirbt millionenfach an Streß und Autoterror. Befreiung ist out – wovon auch, wo doch der Begriff „Freiheit“komplett umdefiniert wurde und nur noch stumpfes Konsumieren bedeutet? Und was ist die „Mutter aller Probleme“? Eine Migration, die dieses System selbst erzwungen hat, die aber kaum mehr stattfindet. Selbst die, die gar nichts mehr haben, können und dürfen, fürchten nichts so sehr wie den Verlust ihrer „Privilegien“durch das Eindringen von Fantastilliarden terrorgieriger Fanatiker einer schrecklichen Mordreligion. Vielleicht wäre es die beste Lösung, das Innenministerium abzuschaffen und Leuten wie Seehofer kein Mikro mehr hinzuhalten, in das sie ihren Schmarrn plärren können. Dann könnten wir uns dem wahren Problem widmen und es vielleicht sogar lösen, bevor es dafür endgültig zu spät ist.