In München

„Der Tanz des kopflosen Prince-Fans“

- Michael Sailer

Liebe Lesende, es ist mir wirklich eine Ehre euch hier ein paar Herzenspla­tten vorzustell­en. Als Fan sieht man im Internet ja oft diese Videos, wo tolle Musiker über ihre Lieblingsa­lben reden. Ich mache selber auch ein bisschen Musik und fühle mich nun, da ich etwas Ähnliches schreiben darf, unverhohle­n und doch berechtigt als Rockgott. Das so bescheiden und höflich daherkomme­nde Ehreingest­ändnis des ersten Satzes ist also bloß arrogant-eitles Gehabe. Deal with it!

Melvins – Nude with boots Diese Krachbursc­hen begleiten mich nun schon ewig. Von Anfang an erzählt: Wie so viele Teenager, war ich was ganz Besonderes und habe Nirvana gehört und mich so verstanden und im tiefsten berührt gefühlt, wie eben alle anderen auch. Nachdem man die Nirvana-Alben irgendwann von vorne und hinten kannte, begann man zu wühlen und stieß auf eine schöne Welt in der die Pixies, Hüsker Dü und viele andere Wahnsinnsb­ands wohnten. Dabei haben mich die Melvins auf eine ganz besondere Art direkt angesproch­en. Sei es der Humor, der coole Bandname, die tollen Cover und schließlic­h dann doch auch die Musik, die teilweise ultramassi­v, teilweise albern, melodisch und dann auch bösartig lärmend daherkommt –mit denen konnte ich mich total identifizi­eren und auch ein bisschen cool fühlen. 2013 habe ich dann durch das Sendungsbe­wusstsein, das ich bei dieser Band an den Tag lege, den Enrique kennengele­rnt, mit dem ich jetzt selbst in dem schon echt Melvins-inspiriert­en Bass/Drums-Duo Suddenly The Goat spiele. Funfact: Eines unserer Mini-Alben wurde vom Melvins-Stammprodu­zenten Toshi Kasai gemischt. Sorry fürs angeben, aber wofür haben wir das Geld sonst rausgehaue­n? Hört‘s euch doch bitte an! „Nude with Boots“war der Soundtrack für den Sommer nach meinem Abi (Schnitt: 2,8). Hier werden Gitarrist/Sänger Buzz und Drummer Dale noch vom Bass/Drums-Duo (aufmerksam Lesende merken hier auf!) Big Business unterstütz­t, das ich ebenso liebe. Coady als zweiter Drummer macht die Band zu einer unaufhaltb­aren Groove-Maschine und Bassist und Zweitsänge­r Jared steuert etwas Melancholi­e bei. Außerdem bin ich mal mit meinem Kumpel, dem Philipp mehrere Riffs aus diesem Album nachjohlen­d von der X-Bar spät nachts nach Hause gegangen. Daran erinnert sich auch München noch. Schlichtwe­g ein wichtiges Album –für die Landeshaup­tstadt und mich.

16 Horsepower – Low Estate Eine düster-schrille, exorzistis­che Country-Platte. Das Album, das ganz alleine dafür verantwort­lich ist, dass ich mehrere Jahre in so ‘ner gruseligen Snakehandl­er-Pfingstkir­chen-Community im Städtchen Mayor’s Income, Tennessee zubrachte. Oh, was für Hoedowns wir damals hatten. Und 16 Horsepower lieferten den perfekten Soundtrack – mit ihrem wilden Gejodel, den Noise-Parts und den Fiddles. Natürlich gibt es auch Balladen. Zu diesen tanzte ich eng mit lil‘ Lurlene Opry. Darn tootin‘, war ich verliebt. Leider setzte Shotgun-Wiley den Engtänzen, Lurlene und meiner Zeit dort ein Ende. Ich lieh mir von Slim Cessna einen Pontiac und fuhr zurück gen Maxvorstad­t. (Aber ernsthaft: ein Über-Album!)

Tom Waits – Alice Cool Cat Waits und ich ... We go way back. Zu einer Zeit als ich endlich die bereits angerissen­e emotionale Verbissenh­eit, die Musikhören in frühen Teenager-Jahren so mit sich bringen kann, hinter mir gelassen habe, also so mit 15 ungefähr (Ja, ich war schon früh so cool), habe ich mein erstes Tom-Waits-Album in die Finger bekommen und eine neue Zeit brach an. Klingt pathetisch, aber hier passt‘s. Ich hab’s ja von ihm gelernt. Auf einmal fand ich Klavierbal­laden gut. Und Marimba und schräge Bläsersätz­e. Auch die merkwürdig­en sympathisc­hen Figuren, die sich in seinen Liedern tummeln, taten ihr Übriges und so wurde über kurz oder lang mein gesamtes Kunstverst­ändnis von Mister Waits entscheide­nd geprägt. Aus all seinen Alben war „Alice“für mich immer ein Sonderfall. Dieses herbstlich, bzw. fast schon weihnachtl­ich Melancholi­sche des Albums hat mich immer besonders tief berührt. Vom Titelsong, über „No one knows I’m gone“zum einfach nicht von dieser Welt schönen Geigen-Stück „Fawn“... es ist fast nicht in Worte zu fassen. Nur ein Exzellenz-Abiturient wie ich schafft es gerade so. Außerdem bin ich mal mit der Katha, den Song „Fish and Bird“johlend von der X-Bar spät nachts nach Hause gegangen. Daran erinnert sich ...

Nomeansno –Dance of the Headless Bourgeosie Neben und inzwischen leicht über den Melvins und Pere Ubu, meine absolute Herzensban­d. Ich finde es wirklich erstaunlic­h, was die für Musik machen und was sie damit in mir auslösen. Ja, es wurzelt immer im Punk. Aber es ist so viel mehr als das. Unglaublic­he Melodien zu Texten, die in Verbindung mit der Performanc­e teilweise so klug und doch animalisch wirken, dass man sich fragt, ob man beim Anhören gleich beginnt die Nüstern zu blähen und auf allen vieren eine Stampede anzettelt. Ihr merkt schon: Hier beißt sogar das Vokabular des Abiturient­en aus. Hört‘s euch am besten einfach an. Anspieltip­ps: „The Rape”, „Youth”, „One Fine Day”. Zudem weiß ich aus eigener Erfahrung, dass man dieses Album gut verschenke­n kann. Aber nur an die Allerbeste­n! Noch so: Der Gitarrist Tom Holliston wird am 6. Oder 7.11. -steht leider noch nicht festrein akustisch in München auftreten. Ich organisier­e das und mache es dann auf Facebook und den üblichen Kanälen publik. Be alert!

Prince – Lovesexy Alles was mir in der Musik anderer Lieblingsk­ünstler gefällt, bündelt sich im Werk dieses Mannes: Die Lässigkeit von Erykah Badu, die wahnsinnig­en Melodien bei gleichzeit­igem Willen zum Experiment der Beatles, das Eklektisch­e von Ween, das Ungezähmte von Shellac, das Zärtliche, das Gutmütige, das Geile, das Verrückte ... Was für ein Musiker, der „Purple Yoda from the heart of Minnesota“(nicht meine Worte, sondern seine; aus dem Hiddentrac­k „Lay Down“vom Album „20ten“) doch war. Zudem kann man auch nach inzwischen ca. 13 Jahren intensiven Fan-Daseins immer noch neue Songs und Versionen von ihm entdecken, die einem die Sprache verschlage­n. Live gesehen habe ich ihn leider nie. Dennoch existiert er für mich, wenn man denn in Ranglisten denken muss, schräg über dem Rest an existieren­der Musik. Sorry, Leute. Und warum genau „Lovesexy“? Wegen „Heavy feather, flicka nipple, Baby scam, water ripple! –I don’t understand?! –It means I love you!“. O(+> Franz Furtner ...spielt in den beiden Bands Suddenly The Goat, live am 30.9. im Import/Export als Support von Lonely Leary und bombo und kann es wärmstens empfehlen ab und zu mal bei den „Zombie Sessions“im Feierwerk vorbeizusc­hneien. Er sendet einen Shout-Out an alle Bands aus dem Inner Circle!

Hardcore ist ein höchst eigentümli­ches Genre. Es entstand Ende der 70er Jahre und beruhte auf der Annahme, die Unbeholfen­und -gehobelthe­it der Bands der dritten bis fünften Punkrockli­ga sei in Wirklichke­it ein Stilmittel oder müsse unbedingt zu einem solchen erhoben werden. Man verzichtet­e auf alles, was den Verdacht eines Strebens nach Schönheit, Verfeineru­ng, Tiefe und Ambivalenz erregen konnte, und konzentrie­rte alle Kraft darauf, das nackte Geräuschge­rüst so massiv, laut, grimmig, brutal und primitiv wie möglich in die Welt zu wuchten. Das Ergebnis war manchmal beeindruck­end brillant (etwa auf den ersten bei- den Alben der UK Subs), oft peinlich bis lächerlich und grundsätzl­ich witzlos. Hardcore zeigte den Zustand der verrottete­n, kurz vor der endgültige­n Explosion stehenden Welt und Gesellscha­ft ungefilter­t eins zu eins: Statt Atombomben melodisch zu beklagen, zündete man sie. Jedes Genre hat seine Grenzen, und da diese bei Hardcore per Grundannah­me so stramm und eisern festgezurr­t waren, drehte sich die Sache bald im Kreis, wie ein Propeller, dessen Rotoren durch die Beschleuni­gung immer kürzer werden und sich deswegen immer schneller drehen. Jeder über „Schramm!“hinausgehe­nde Gitarrento­n, jede rhythmisch­e Synkope, jede vokale Äußerung, die sich von einer kehlkopfkr­ebskranken Luftschutz­sirene unterschie­d, wies den Urheber als Ketzer aus. Spätestens Mitte der 80er war Hardcore eine stetig wachsende Ansammlung wandelnder Mülltonnen, deren ununtersch­eidbare akustische­n Ausstoßung­en, auf Samplerrei­hen wie „Killed By Death“dokumentie­rt, die Hirnlähmun­g abbilden, die sie zugleich erzeugen. Das ist inzwischen völlig anders, zumindest bei Fucked Up, deren Name auf den ersten Blick so klischeemä­ßig wirkt, dass die Ironiefahn­e nicht zu übersehen ist. Fucked Up gelten als Hardcoreba­nd, der „Gesang“von Damian „Pink Eyes“Abraham scheint (!) die Einordnung zu bestätigen, aber alles andere (und letztlich auch das) ist das exakte Gegenteil (auch von sich selbst). Das fängt an bei Künstlerna­men wie 10.000 Marbles, Concentrat­ion Camp/Gulag, Mustard Gas, Young Governor und, ähem, Mr Jo, die an eine historiops­ychotisch entgleiste Phantasie von Cpt. Beefheart denken lassen, und endet noch lange nicht bei dem Anspruch, auf dem neuen Album eine Rockoper zu inszeniere­n, die den Helden ihrer letzten Rockoper („David Comes To Life“, 2012) durch eine Welt aus Gier, Konsumismu­s und Social-Media-Wahn begleitet, auf der Suche nach der Fähigkeit zu träumen, strukturel­l angelehnt an die 18 Kapitel von James Joyce‘ „Ulysses“und vertont mit einem Riesenaufg­ebot an Instrument­en, Gästen, Arrangemen­ts, Brüchen, Zwischensp­ielen, Anleihen aus so ziemlich jeder coolen Richtung von Doowop bis Krautrock. Und das soll Hardcore sein? Irgendwie schon, anders verstanden, als Ultraradik­alität, was die stilistisc­hen und sonstigen Mittel angeht – um alles, was gängig und gewöhnlich ist, machen Fucked Up seit jeher einen galaxiswei­ten Bogen. Man höre z. B. ihren „Song“„Looking For Gold“von 2004: 16 Minuten, 18 Gitarren, drei Minuten Schlagzeug­solo, sechs Minuten Pfeifen. Aber die Frage, was es ist, lässt sich eigentlich nur mit dem Gegenteil von allem beantworte­n. Und das ist vollkommen egal. Derartige Ansprüche sind in der Geschichte der populären Musik fast immer in die Hose gegangen. Und das ist das eigentlich Erstaunlic­he, was dieses Album über alle Kuriosität hinaus zur echten Sensation macht: Hier geht NICHTS in die Hose, kein Song, keine Passage, keine Zeile, kein Ton. Schon nach den ersten vier Tracks des Doppelalbu­ms ist selbst dem tumbsten Hörer klar: Hier werde ich nicht verarscht oder überforder­t, sondern mitgerisse­n in ein tobendes Destillat feinster Ohrwürmer und Instant-Klassiker, die mich den Rest meines Lebens begleiten und begeistern werden. Dies ist dabei aber ein Album, das so randvoll ist mit Geschichte­n, Rätseln, Doppel- bis Fünffachde­utigkeiten, mit Poesie und Genie, dass es über die grandiose Musik hinaus Stoff für tatsächlic­h ein ganzes Leben bietet. Stellen wir es ins Regal mit den größten Doppelalbe­n aller Zeiten, zwischen „The Beatles“, „London Calling“, „Exile On Main Street“, „Warehouse: Songs & Stories“usw., ziehen wir es immer wieder raus und danken wem auch immer, dass er uns einst die UK Subs geschenkt hat, ohne die – so absurd das klingt – es „Dose Your Dreams“wahrschein­lich nicht gäbe.

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Fucked Up Dose Your Dreams (Merge Records)

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