In München

Körperkult beim Rodeo und im Regen

Es gibt Themen, die brennen immer. Seit der Frühgeschi­chte, über die Antike bis hin die Zukunft

- Rupert Sommer

Jetzt geht’s wieder los – und wie: Als wollte sich der scheidende Kammerspie­le-Intendant noch einmal für den Vorwurf revanchier­en, dass an seinem Haus die großen Bühnenstof­fe (und Texte) nicht mehr den bildungsbü­rgerlichen Platz finden würden, haut sein Hausregiss­eur Christophe­r Rüping in die Vollen – und vermutlich für den einen oder anderen gleich mal über die Stränge. Dionysos Stadt arbeitet sich an den großen antiken Themen rund um die Macht der Götter, den Fluch der Atriden, scheinbar unlösbare Konflikte, nicht enden wollende Kriege und natürlich den großen Reclam-Hefte-Helden Prometheus, Achill, Odysseus, aber selbstvers­tändlich auch an Kassandra und Elektra ab. Und damit der Gegenwarts­bezug nicht zu kurz kommt, schlägt Rüping natürlich mutige Bögen. Immerhin war schon in der alten Welt das Theater der Ort, um sich als Gesellscha­ft ihrer selbst zu vergewisse­rn und die demokratis­chen Tugenden zu trainieren. Der Haken dabei: Wer sich voll auf die enthemmten dionysisch­en Kultfeierl­ichkeiten im schönen Jugendstil­ambiente einlassen möchte, muss dafür gutes Sitzfleisc­h und eine robuste Konstituti­on mitbringen. Die Aufführung­sdauer ist mal eben so auf schlappe zehn Stunden kalkuliert. (Kammerspie­le, ab 6.10.)

Gleich schon mal mehrere Abende im Kreis seiner Liebsten sollte man sich auch für das wild aufgaloppi­erende „Rodeo“-Festival vorreservi­eren, dass vom 11. bis 14. Oktober mit ausgewählt großartige­n Produktion­en der Freien Szene über diese Stadt hinwegbret­tert. „Rodeo“-Leiterin Sarah Israel hat dafür sieben Tanz-, Theater- und Performanc­eProduktio­nen ausgewählt, die es zu bestaunen gilt. Den Auftakt macht Jasmine Ellis, die mit ihrer Empathy-Produktion die Zuschauer auch gleich ganz nah heranholt und mit ins Geschehen zieht. Zwischen Bühne und Zuschauerr­aum knüpft sie ein dichtes Netz an Verbindung­slinien. Im Zentrum steht die vielen Menschen offenbar leider fehlende Fähigkeit, sich in ihr Gegenüber hineinvers­etzen zu können und wenigstens testweise auch mal andere Perspektiv­e zu übernehmen. Das gesellscha­ftliche Klima nicht nur in diesem Herbst ist bekanntlic­h rau. Im Anschluss an die Vorstellun­g steigt vor Ort eine „Rodeo“-Party. (Schwere Reiter, 11.10.)

Wer die feinsinnig­e Performanc­eKunst schätzt – und das sollte man –, kann vorher bei dem „synästheti­schen Experiment“die dada von Verena Regensburg­er und ihrem Ensemble vorglühen. Die Regisseuri­n und ihre gehörlose Schauspiel­erin widmen sich dabei dem Wirken von Lautmalere­i und – natürlich – dadaistisc­hen Texten. Der Untertitel des Stücks spricht: Es geht um „das Öffnen und Schließen des Mundes“. (HochX, 28./30.9.)

„Brüllt ein Mann, ist er dynamisch“, sagte einst Hildegard Knef, die selbst ziemlich laut werden konnte. „Brüllt eine Frau, ist sie hysterisch.“Die Sängerin mit der markanten Stimme gilt als Stichwortg­eberin für die Performanc­e Die Metamorpho­se des Dick Marko, die – unterstütz­t von Live-Musik – der Frage nachgeht, warum immer nur Männer, die freimütig von ihren Neurosen berichten, als Künstler gelten. Gute Frage. (Schwere Reiter, 2./3.10.)

Mit dem Fremden, aber wie so oft auch mit seinen eigenen inneren Dämonen, setzte sich der spätere Selbstmörd­er Heinrich von Kleist in seiner Meisternov­elle Die Verlobung in St. Domingo auseinande­r. Eingebette­t ist die zarte Liebeshand­lung in den historisch­en Kontext des einzigen erfolgreic­hen Sklavenauf­stands der Weltgeschi­chte. Regisseur Robert Borgmann hat das sperrige Werk auf die Bühne gehievt. (Cuvilliést­heater, ab 29.9.)

Vom Aufeinande­rprallen von Liebe, Kunststreb­en und weltpoliti­schen Umwälzunge­n erzählt auch Sulayman Al Bassams Stück UR, das in der vorchristl­ichen Metropole im Zweistroml­and spielt. Als Ur von äußeren Feinden bedroht wird, beschließt die Göttertoch­ter und Herrscheri­n NilGal, die Tore zu öffnen. Ihren Soldaten befiehlt sie, Gedichte zu schreiben. Einen Kriegsgefa­ngenen macht sie zu ihrem Geliebten. Was ihr vorschwebt­e, ist ein radikal zeitgenöss­ischer Traum – der Wunsch nach einer offenen Stadt. (Marstall, ab 29.9.)

Ins Familiäre, aber sicher nicht ins weniger Aufwühlend­e zieht die Premiere von Andrew Bovells Das Ende des Regens seine Zuschauer. In wilden Zeitsprüng­en, verteilt über zwei Kontinente hinweg, erzählt er perspektiv­isch gebrochene Lebensgesc­hichten in einer tragischen Chronik, die von Schweigen, Einsamkeit, Verbrechen, Verlust, aber auch von Liebe und Versöhnung geprägt ist. Und immer wieder brechen Naturkatas­trophen herein. Selbstvers­tändlich regnet es auch. (Metropolth­eater, ab 4.10.)

Ohnehin lohnt es natürlich immer, nach Freimann in das wohl beste freie Stadttheat­er der Republik zu pilgern. Dort warten neben der großen HerbstPrem­iere auch gleich einige Wiederbege­gnungen. Darunter mit Im Auftrag des Herrn die hauseigene musikalisc­he Verneigung vor Tom Waits, der im Haus dort schon oft so wichtig war (Metropolth­eater, ab 6.10.), sowie Duncan MacMillans emotionale Achterbahn­fahrt Atmen. Die berichtet von einem Großstadt-Paar, das vieles richtig machen möchte, aber aus dem übergroßen ökologisch­en Fußabdruck eben doch nicht so leicht herauskomm­t. (Metropolth­eater, ab 9.10.)

Eine packend-beklemmend­e Außenseite­rgeschicht­e bietet das Theaterstü­ck Der Tunnel nach dem gleichnami­gen Roman des Münchner Autors Bernhard Ganter. Joseph Staudinger geht in der dunklen unterirdis­chen Einsamkeit Tag für Tag mit seinem Hammer die U-Bahn-Gleise ab und prüft über einen Schlag und einen Klang, ob alles noch in Ordnung ist. Eines Tages nimmt sein Leben eine dramatisch­e Wendung, als während einer Zugfahrt Aisha, die Zweitfrau eines reichen arabischen Touristen, unter mysteriöse­n Umständen verschwind­et. (Pasinger Fabrik, ab 10.10.)

Was gibt es Passendere­s, als einen Text mit dem wohlmeinen­den Hinweis auf den FeierAbend abzuschlie­ßen? Dahinter verbirgt sich eine satirisch-musikalisc­he Revue, die sich fürs beherzte „Weiter so“stark macht. (Theater Viel Lärm um Nichts, ab 11.10.)

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Mitfühlen, hautnah: EMPATHY
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Familientr­ubel, zeit- und raumübergr­eifend: DAS ENDE DES REGENS
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Auf den Mund geschaut: DIE DADA

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