Körperkult beim Rodeo und im Regen
Es gibt Themen, die brennen immer. Seit der Frühgeschichte, über die Antike bis hin die Zukunft
Jetzt geht’s wieder los – und wie: Als wollte sich der scheidende Kammerspiele-Intendant noch einmal für den Vorwurf revanchieren, dass an seinem Haus die großen Bühnenstoffe (und Texte) nicht mehr den bildungsbürgerlichen Platz finden würden, haut sein Hausregisseur Christopher Rüping in die Vollen – und vermutlich für den einen oder anderen gleich mal über die Stränge. Dionysos Stadt arbeitet sich an den großen antiken Themen rund um die Macht der Götter, den Fluch der Atriden, scheinbar unlösbare Konflikte, nicht enden wollende Kriege und natürlich den großen Reclam-Hefte-Helden Prometheus, Achill, Odysseus, aber selbstverständlich auch an Kassandra und Elektra ab. Und damit der Gegenwartsbezug nicht zu kurz kommt, schlägt Rüping natürlich mutige Bögen. Immerhin war schon in der alten Welt das Theater der Ort, um sich als Gesellschaft ihrer selbst zu vergewissern und die demokratischen Tugenden zu trainieren. Der Haken dabei: Wer sich voll auf die enthemmten dionysischen Kultfeierlichkeiten im schönen Jugendstilambiente einlassen möchte, muss dafür gutes Sitzfleisch und eine robuste Konstitution mitbringen. Die Aufführungsdauer ist mal eben so auf schlappe zehn Stunden kalkuliert. (Kammerspiele, ab 6.10.)
Gleich schon mal mehrere Abende im Kreis seiner Liebsten sollte man sich auch für das wild aufgaloppierende „Rodeo“-Festival vorreservieren, dass vom 11. bis 14. Oktober mit ausgewählt großartigen Produktionen der Freien Szene über diese Stadt hinwegbrettert. „Rodeo“-Leiterin Sarah Israel hat dafür sieben Tanz-, Theater- und PerformanceProduktionen ausgewählt, die es zu bestaunen gilt. Den Auftakt macht Jasmine Ellis, die mit ihrer Empathy-Produktion die Zuschauer auch gleich ganz nah heranholt und mit ins Geschehen zieht. Zwischen Bühne und Zuschauerraum knüpft sie ein dichtes Netz an Verbindungslinien. Im Zentrum steht die vielen Menschen offenbar leider fehlende Fähigkeit, sich in ihr Gegenüber hineinversetzen zu können und wenigstens testweise auch mal andere Perspektive zu übernehmen. Das gesellschaftliche Klima nicht nur in diesem Herbst ist bekanntlich rau. Im Anschluss an die Vorstellung steigt vor Ort eine „Rodeo“-Party. (Schwere Reiter, 11.10.)
Wer die feinsinnige PerformanceKunst schätzt – und das sollte man –, kann vorher bei dem „synästhetischen Experiment“die dada von Verena Regensburger und ihrem Ensemble vorglühen. Die Regisseurin und ihre gehörlose Schauspielerin widmen sich dabei dem Wirken von Lautmalerei und – natürlich – dadaistischen Texten. Der Untertitel des Stücks spricht: Es geht um „das Öffnen und Schließen des Mundes“. (HochX, 28./30.9.)
„Brüllt ein Mann, ist er dynamisch“, sagte einst Hildegard Knef, die selbst ziemlich laut werden konnte. „Brüllt eine Frau, ist sie hysterisch.“Die Sängerin mit der markanten Stimme gilt als Stichwortgeberin für die Performance Die Metamorphose des Dick Marko, die – unterstützt von Live-Musik – der Frage nachgeht, warum immer nur Männer, die freimütig von ihren Neurosen berichten, als Künstler gelten. Gute Frage. (Schwere Reiter, 2./3.10.)
Mit dem Fremden, aber wie so oft auch mit seinen eigenen inneren Dämonen, setzte sich der spätere Selbstmörder Heinrich von Kleist in seiner Meisternovelle Die Verlobung in St. Domingo auseinander. Eingebettet ist die zarte Liebeshandlung in den historischen Kontext des einzigen erfolgreichen Sklavenaufstands der Weltgeschichte. Regisseur Robert Borgmann hat das sperrige Werk auf die Bühne gehievt. (Cuvilliéstheater, ab 29.9.)
Vom Aufeinanderprallen von Liebe, Kunststreben und weltpolitischen Umwälzungen erzählt auch Sulayman Al Bassams Stück UR, das in der vorchristlichen Metropole im Zweistromland spielt. Als Ur von äußeren Feinden bedroht wird, beschließt die Göttertochter und Herrscherin NilGal, die Tore zu öffnen. Ihren Soldaten befiehlt sie, Gedichte zu schreiben. Einen Kriegsgefangenen macht sie zu ihrem Geliebten. Was ihr vorschwebte, ist ein radikal zeitgenössischer Traum – der Wunsch nach einer offenen Stadt. (Marstall, ab 29.9.)
Ins Familiäre, aber sicher nicht ins weniger Aufwühlende zieht die Premiere von Andrew Bovells Das Ende des Regens seine Zuschauer. In wilden Zeitsprüngen, verteilt über zwei Kontinente hinweg, erzählt er perspektivisch gebrochene Lebensgeschichten in einer tragischen Chronik, die von Schweigen, Einsamkeit, Verbrechen, Verlust, aber auch von Liebe und Versöhnung geprägt ist. Und immer wieder brechen Naturkatastrophen herein. Selbstverständlich regnet es auch. (Metropoltheater, ab 4.10.)
Ohnehin lohnt es natürlich immer, nach Freimann in das wohl beste freie Stadttheater der Republik zu pilgern. Dort warten neben der großen HerbstPremiere auch gleich einige Wiederbegegnungen. Darunter mit Im Auftrag des Herrn die hauseigene musikalische Verneigung vor Tom Waits, der im Haus dort schon oft so wichtig war (Metropoltheater, ab 6.10.), sowie Duncan MacMillans emotionale Achterbahnfahrt Atmen. Die berichtet von einem Großstadt-Paar, das vieles richtig machen möchte, aber aus dem übergroßen ökologischen Fußabdruck eben doch nicht so leicht herauskommt. (Metropoltheater, ab 9.10.)
Eine packend-beklemmende Außenseitergeschichte bietet das Theaterstück Der Tunnel nach dem gleichnamigen Roman des Münchner Autors Bernhard Ganter. Joseph Staudinger geht in der dunklen unterirdischen Einsamkeit Tag für Tag mit seinem Hammer die U-Bahn-Gleise ab und prüft über einen Schlag und einen Klang, ob alles noch in Ordnung ist. Eines Tages nimmt sein Leben eine dramatische Wendung, als während einer Zugfahrt Aisha, die Zweitfrau eines reichen arabischen Touristen, unter mysteriösen Umständen verschwindet. (Pasinger Fabrik, ab 10.10.)
Was gibt es Passenderes, als einen Text mit dem wohlmeinenden Hinweis auf den FeierAbend abzuschließen? Dahinter verbirgt sich eine satirisch-musikalische Revue, die sich fürs beherzte „Weiter so“stark macht. (Theater Viel Lärm um Nichts, ab 11.10.)