Reaktionen auf den Rumor
Residenztheater: Spielzeitbeginn mit „Marat/Sade“, „Ur“und einer Kleist-Spielerei
Das Spiel als politischer Akt – das ist, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, wie es zur Zeit rumort in unserer Demokratie, das Spielzeitmotto heuer am Residenztheater. Und bei Tina Laniks Eröffnungsarbeit heißt das gleich mal: die Revolution als Spektakel. „Marat/Sade“ist der Kurztitel des Dramas von Peter Weiss (1964), die längere Version verweist auf ein Irrenhaus, das die Verfolgung und Ermordung des Jakobiners M. nachspielt. Auf der vielräumigen Holzwand-Drehbühne von Stefan Hageneier entsteht mit Verve und einigem Blutgepansche ein lebhafter Abend, samt etwas vordergründigen Aufklärungshäppchen. Nils Strunk als kämpferischer Revoluzzer Marat, sonst ausschlaggeplagt in seiner Wanne sitzend, fragt ins Publikum, wer dabei war bei der Ausg’hetzt-Demo (wenige Hände), ein inszenierter Zwischenrufer kitzelt ein paar Reaktionen aus dem Halbdunkel. Das wirkt gewollt, und es bleibt: schlechteres Theater im Vergleich zu dem, was sonst oben auf der Bühne läuft. Begleitet von einem Chor etwas assliger Männer in Feinripp und dem uniformierten Conferencier Michelle Cuciuffo (der sich später mit einem Rap ganz arg auf Napoleon freut) hetzt die Szenenfolge zwischen den Antipoden Marat und de Sade hin und her. Letzterer ist eigentlich der Regisseur dieser Theatertruppe (in der noch Pauline Fusban ihrem Marat eine treue Freundin ist und Lilith Hässle die Marat-Mörderin Corday zur Furie macht). Aber dieser Marquis de Sade von Charlotte Schwab klebt nur neben der Szenerie am Boden: fettwampig und desillusioniert predigt er/sie den Individualismus. Quer im Marstall steht eine Bühne im Stein-Look, zu zwei Seiten nehmen die Zuschauer Platz. Hier spielt Sulayman Al Bassams, kuwaitischer Autor und Regisseur, „Ur“mit Aspekten nicht nur nahöstlicher Geschichte in verschiedenen Zeitebenen: 2000 v. Chr., um 1900, 2015 und 2035. Ausgehend von Nin Gal, der erfundenen Göttertochter, die statt Gewalt Gedichte fordert, formt sich, sehr ausschnitthaft, eine elegische Bildsequenz. Mit deutschen und arabischen Schauspielern (es gibt Übertitel) wird hineingespürt in Mythos und Pathos der arabischen Welt, wir lernen was über eine nationalistisch motivierte Archäologie, und dürfen, mit schalem Beigeschmack, über IS-Schergen lachen. Intensiv, nachdenklich, in den großen Zusammenhängen aber etwas unentschlossen. Robert Borgmann, Regisseur und Musiker, schnappt sich am Cuvilliéstheater „Die Verlobung in St. Domingo“, Heinrich von Kleists Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Sklavenaufstands in Haiti mit bad end: ein Verfolgter erschießt die Tochter des Hauses, in dem er Zuflucht gefunden hat. Unter einem aufklappbaren Neonlampenstern (Bühne: Rocco Peuker) dient der Stoff, intellektuell mit etwas Heiner Müller aufgepimpt, zum diffusen Spiel mit Perücken, mit Konterfeis von Kämpfern und Künstlern auf den Klamotten, mit einem ziemlich genialen Thomas Schmauser als (warum auch immer) Michael-Jackson-Reinkarnation und einer Spiegelung mit dem tragischen Ende des Autors Kleist (Marcel Heupermann), der erst seine Freundin Henriette Vogel (Mathilde Bundschuh) erschießt und dann sich selbst. Von Borgmanns retardierenden Live-Klängen minimalistisch untermalt, weiß dieser Abend der vielen Ideen aber nicht so wirklich, was er sein will: Biopic, Rassismus-Kommentar oder Satire – die über ein armes Seehofer-Bashing (sein Antlitz, als „Wüterich“, auf einem Luftballon, bruhaha) nicht hinauskommt.