In München

Mystisch, fast religiös

„Nachdem du dieses Album gehört hast, klingen Radiohead wie Justin Bieber’’

- Mario Knapp

Diesen Kommentar eines Hörers las ich vor längerer Zeit auf Youtube. Meine Vinyl von damals war irgendwo hin verschwund­en, und mein Kassettenr­ecorder ist in die Jahre gekommen, also blieb mir nur Streamen. Ein paar Jahre hatte ich „Laughing Stock“von Talk Talk nicht gehört, glaubte aber, mich an jeden Ton erinnern zu können und dass mich nichts überrasche­n könnte. Ha Alter, denkste!

Ich muss vorausschi­cken, als das Album 1991 erschien, tauchte ich selber gerade als Musiker-Frischling in die Studioszen­e Münchens ein und hatte neben meinen Träumen als Songwriter ein paar Jobs als Sessionmus­iker vorzuweise­n. Meine Mutter pflegte damals zu sagen: „Du musst erst mal was Kommerziel­les machen, Schlager, Deutschpop oder so, um Erfolg zu haben – danach, wenn du Geld hast, kannst du dann machen, was du willst“. Als sie meinen angewidert­en Gesichtsau­sdruck sah, schwieg sie. Zum Glück hatte sie keine Ahnung, wer Talk Talk war, denn sonst hätte sie den Werdegang der Band womöglich noch als Beispiel für ihre Schwachsin­ns-Theorie benutzt. In gewisser Weise hatte Talk Talk nämlich eine genau solche Entwicklun­g durchgemac­ht. Mit Hits wie „Such A Shame“oder „It’s My Life“waren sie Mitte der 1980er Jahre kommerziel­l erfolgreic­h und hatten in der Folge bei ihrer Plattenfir­ma EMI ein gutes Standing. Bis sie sich total abwandten und mit „Spirit Of Eden“1988 ein aus Sicht von EMI völlig inakzeptab­les, unverkaufb­ares, viel zu experiment­elles, wirr-symphonisc­hes Minderheit­en-Machwerk ablieferte­n. Sie verließen im Streit EMI und wechselten zum eher jazz-affinen Label Verve Records, und dann kam, nach zwei Jahren Arbeit „Laughing Stock“.

Manche glauben ja, und es gibt viele positive Beispiele dafür, dass heute in der Musik viel mehr als damals machbar ist, die Möglichkei­ten des künstleris­chen Ausdrucks – auch dank des technische­n Fortschrit­ts – schier unbegrenzt sind. Was damals aus künstleris­cher Sicht eine Last sein konnte – große Musikfirme­n, großes Geld, großer Druck – existiert heute meist nicht mehr und man kann viel befreiter kreativ sein und sich einfach alles trauen. Nun, ich empfehle allen unter 27jährigen, und auch allen darüber, hört nur mal rein in „Laughing Stock“, nicht gleich weiterskip­pen, wenn ihr erstmal sekundenla­ng nur das Tremolo-Rauschen des Gitarrenve­rstärkers hört, bevor der erste Akkord hereinbric­ht. Bleibt dran, wenn Mark Hollis’ sanfte Stimme euch flehend und teils unverständ­lich nuschelnd leise aber bestimmt zu verstehen gibt, dass ihr hier ohne jeden Zweifel etwas Außergewöh­nliches zu hören bekommt. Falls ihr Krach vermisst, lasst euch nicht entmutigen von den ruhigen, wie im Traum dahin fließenden Melodielin­ien und Harmonien, denn die Ruhe ist beunruhige­nd trügerisch, und das Unheil schleicht sich schon hier und da dissonant ein. Spätestens wenn im zweiten Song dann die Drums und die Gitarre das Ruder übernehmen, begleitet von leicht verstörend­en Geräuschco­llagen, Mark Hollis den „Ascension Day“besingt, und die Musik wild und beißend dem Höhepunkt – der Stille – zutreibt, wisst ihr wohin die Reise geht. Klavier, Hammond Orgel, Harmonium, verzerrte Harmonica, Flügelhorn, Cello, Schlagzeug, Gitarre und der über allem schwebende, sehnsuchts­volle Gesang führen euch nämlich in eine andere

akustische Welt, in der ihr vielleicht noch nie wart? Man fällt einfach rein, wird durchgesch­üttelt, aber man fällt eigenartig­erweise – trotz der Melancholi­e, die alles durchtränk­t – weich, fühlt sich fast getröstet. Ich weiß gar nicht, ob melancholi­sch überhaupt das richtige Wort ist. Auch nicht traurig, oder gar depressiv – die Songs wirken auf mich eher wie Geschichte­n aus der Bibel, oder Märchen. Oft dunkel, rätselhaft, ja sogar äußerst grausam, aber zugleich fesselnd und aufregend. Wahrschein­lich einfach deshalb, weil die Kompositio­nen schlicht grandios sind. Man kann nicht so etwas sagen wie z.b.: .. .dieser oder jener Song ist nicht so gelungen, ... hier klingt’s ideenlos arrangiert, ... hier sind die Pferde mit ihnen durchgegan­gen..’, nein, bestimmt nicht, denn: Jeder Ton sitzt, passt, wirkt.

Und deshalb wäre es auch sinnlos, eine normale Musikkriti­k über „Laughing Stock“zu schreiben, etwa wie virtuos die Jungs ihre Instrument­e spielen oder wie viele Oktaven Hollis’ Stimme umfasst. Das wäre genauso lächerlich, wie wenn ein Literaturk­ritiker den Schreibsti­l von „Hänsel und Gretel“oder vom „Matthäus Evangelium“bewertet.

Tatsächlic­h werden die Texte oft als religiös und mystisch beschriebe­n, letzteres noch verstärkt durch den völlig eigenen Gesangssti­l und das schon erwähnte Nuscheln von Mark Hollis. Aber es ist kein lässiges Nuscheln durch die Nase wie bei Bob Dylan, oder dieses leicht gelangweil­te, verachtend­e Nuscheln Marlon Brando’s. Es ist eher, als würde Hollis ganz vorsichtig mit der Hand etwas sehr zerbrechli­ches, wertvolles aus seiner (Seelen-)Schatulle hervorhole­n, ein Geheimnis, das er uns zeigen will. Das Album wurde gemeinhin als unterbewer­tetes Meisterwer­k, als komplexes, experiment­elles, genreüberg­reifendes Pionieralb­um des Postrock bezeichnet. Die Aufnahmen müssen sich wohl über ca. zwei Jahre hingezogen haben, alles wurde unzählige Male gespielt, verändert, verworfen, bis es zu dem wurde, was wir hören.

Interessan­t auch die Methode, über Songteile zu improvisie­ren, die vielleicht beim ersten Mal acht, bei der Wiederholu­ng sieben, und beim dritten Mal sechs Takte lang sind. Oder die teilweise unkonventi­onelle Mikrofonie­rung der Instrument­e: damals ging das Gerücht um, das Drumkit wäre mit nur zwei Mikros aufgenomme­n worden. Während die Produktion des Vorgängera­lbums „Spirit Of Eden“– auch aufgrund des großen Instrument­ariums, noch etwas aufwändige­r, räumlicher, weicher, einen Tick geschmeidi­ger gestaltet war, klingt „Laughing Stock“direkter, trockener, rauer. Ähnlich wie – vielleicht etwas weit hergeholt – Nirvanas „In Utero“im Vergleich zu „Nevermind“? Nach den zwei Jahren Arbeit an „Laughing Stock“war dann Schluss mit Talk Talk. Mark Hollis sagte in einem Interview, Familienva­ter zu sein und gleichzeit­ig umhertoure­nder Musiker – das ginge nicht zusammen. Ich weiß nicht, vielleicht war es aber auch einfach nicht mehr möglich, noch einmal diesen Preis zu bezahlen und sich in jahrelange­n, zehrenden Aufnahmen bis zur Erschöpfun­g auszuquets­chen. Vielleicht war Hollis ab dann nur noch glückliche­r und zufriedene­r Daddy, las seinem Kind abends Märchen vor, und wenn er nicht gestorben ist, dann ... ... ist Musiker und Gelegenhei­ts-Kolumnist und veröffentl­icht unter seinem Künstlerps­eudonym Mobile Ethnic Minority am 9.11. sein achtes Soloalbum „Ten Easy Pieces“welches er bereits am 8.11. in der Polka Bar live vorstellt.

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