Tanz den Wälzer!
Umjubeltes Musical: „Der Medicus“am Deutschen Theater
London, wir schreiben das Jahr 1021. Der junge Rob Cole verliert kurz nacheinander seine Eltern, den Tod der Mutter hat er gar übersinnlich vorausgespürt und trotzdem nichts machen können. Das treibt ihn an, bei einem Bader in die Lehre zu gehen, aber was er da lernt, reicht ihm nicht. Er will zum Studium nach Persien, nach Isfahan, wird Arzt, kollidiert mit Religion und Macht, trifft aber auch seine flüchtige Liebe Mary wieder, um am Schluss in ihrer Heimat auch sein Zuhause zu finden: in den schottischen Highlands. Über 30 Jahre ist er alt, Noah Gordons Wälzer „Der Medicus“, ein Bestseller mit allein in Deutschland über sechs Millionen verkauften Exemplaren, die Verfilmung haben hier drei Millionen im Kino gesehen. Da wundert es eher, dass es so lange gedauert hat, bis dieser fiktive Stoff, der es mit dem historischen Background nicht immer so genau nimmt, auch auf einer Musicalbühne gelandet ist: 2016 kam die Adaption in Fulda beim Musicalsommer raus. Seitdem wurde die Produktion über 200 Mal gezeigt, der Jubel soll überall groß gewesen sein – das ist nun bei der Premiere in München nicht anders. Standing ovations. Naturgemäß landet der größte Beifall bei den Hauptdarstellern. Patrick Stanke als Rob und Barbara Obermeier als Mary, sie sorgen für die innigen Momente an diesem Abend, der viel will, aber dann doch nur die schnelle Oberfläche liefert. So wie die Musik von Dennis Martin fröhlich, aber höhepunktlos durch die Stile hetzt – Walzer, Skiffle, Kelten-Folk, Schmonz, Orientalik tönen satt aus dem Orchestergraben (die Kölner Symphoniker unter Inga Hilsberg) –, so arbeitet auch die Textfassung einen Plotpoint nach dem anderen ab. Ob Religionskonflikt, ob Scheldschukken-Überfall, ob Abschied vor dem Tod: durch diesen „Medicus“(drei Stunden) ist man relativ schnell durch. Die Ausstattung von Christoph Weyers hilft dabei bildmächtig bei der Verortung: vom ärmlichen Londoner Jahrmarkt über das bäuerliche Winterquartier in Bulgarien mitten durch den Videosandsturm in die teppichgepolsterte Orientalik Persiens. Dazu die Kostüme von Ulli Kremer: sie geben den Augen alles, was die Historie an Basis für Authentizität und Pracht so hergibt. Womit sich die Regie in diesem Genre immer wieder schwer tut, sind die Dialogsequenzen. Das ist hier leider nicht anders. Christoph Jilo und Holger Hauer hat die Entwicklung der Schauspielkunst in den letzten Jahrzehnten wenig beeindruckt, sie belassen es beim Darstellerdrapieren der 1950er Jahre. Dazu noch die leidigen Mikroports: es mag der akustischen Verständlichkeit dienen, aber dieser statische Dialogsound bügelt leider jede Intimität glatt. Umso überzeugender die Gesangsparts, die Stimmen lassen nichts zu wünschen übrig – neben dem Hauptpaar beeindrucken besonders Reinhard Brussmann als Robs Lehrmeister Ibn Sina und Christian Schöne als späterer Schah Karim. Der Beifall nach jedem Song spricht für sich, den Applaus explodieren aber lassen erst die Tanzszenen. Die Choreografie, sehr typendifferenziert erdacht von Kim Duddy und inspiriert von allen möglichen ethnischen Impulsen – da steppt schon mal Michael Flatleys Irish Dance dazwischen oder die Körper schlängeln sich in fernöstlichem Tempeltanz –, zeigt die wahre Brillianz, die in diesem Ensemble steckt (nur noch bis 25.11.).