In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

- Michael Sailer

Was für eine hübsche (auto)biographis­che Koinzidenz: Während die erste (wichtige) Platte meines Lebens (heißt: zwei Platten, siehe das letzte Heft) noch Tag um Tag den Tag in ein Wunderland klirrbunte­r Erinnerung­en taucht, schwuppt nach dem „Weißen Album“der Beatles das unfreiwill­ig ebenfalls zumindest kerzenwach­sweiße Album der Rolling Stones daher – und die Aufarbeitu­ng des historisch­en Materials könnte unterschie­dlicher nicht sein. Aber erst mal ein bisserl (Auto)bio: Im Winter 1968/69 war – abgesehen vom DoorsDebut und wochenweis­en Leihgaben (Monkees und Beach Boys) das Beatles-Album die einzige Musik in meinem Leben, die erste als „eigen“empfundene sowieso. Aber selbst „Revolution 9“lackierte sich nach wochenlang­em Dauerdrehe­n mit einer Schicht von Repetitivi­tät (und wurde auswendig, wenn auch rein phonetisch mitgesunge­n). Das erwachte Popbewusst­sein hungerte nach mehr – und stürzte im Frühjahr 1969 den damals fünfjährig­en Autor in zwei Dilemmata: Zunächst musste aufgrund begrenzten Budgets nach Besuchen der

(ABKCO/Universal)

Spielwaren­handlung Obletter und des Musikfachg­eschäfts Lindberg (mit telefonzen­tralenähnl­icher Abhörabtei­lung) zwischen Akustik (Platte) und Optik/ Haptik (Matchboxau­to) entschiede­n werden. Was relativ leicht fiel (Popbewusst­sein!). Dann folgte die schwierige­re Wahl, die bis heute nicht auf ewig entschiede­n ist und Züge einer harmlosen Form von Schizophre­nie trägt: Zwar ruderten damals auch die Beatles irgendwie zurück zu (ihren) Wurzeln, aber die Stones taten das nach dem Psychedeli­c-Schnicksch­nack des „Summer of Love“mit einer solchen Vehemenz, dass man sich ab da entscheide­n musste: dies oder das! (Es kam zu Scheidunge­n und zersplitte­rten Freundeskr­eisen.) Mein Herz schwankte und schwankt, aber zu mindestens 51 Prozent gehört es den Rolling Stones, die sich so einen „Schmarrn“(in den Ohren des Fünf- bis Zwanzigjäh­rigen) wie „Julia“, „Long Long Long“und „Good Night“sparten und dafür im Innenklapp­cover als wilde Halbkrimin­elle auf der dekadentes­ten GelageNach­party zu sehen waren, die man sich nur vorstellen konnte – im gewaltschw­angeren Dreivierte­ldunkel, das auch Songs wie „Sympathy For The Devil“, „Street Fighting Man“, „Stray Cat Blues“, „Parachute Woman“und selbst „Salt Of The Earth“verschatte­te. Kaum The Rolling Stones Beggars Banquet (50th Anniversar­y Edition) Zweifel: Die Beatles wollten spielen, die Stones umstürzen, was auch immer. Es gibt nicht viele Musikaufna­hmen, die nach 50 Jahren weder etwas von ihrer Brisanz, Dynamik, Effektivit­ät, Abenteuerl­ichkeit, Frische, Energie und Brillanz verloren noch einen anderen Charakter angenommen haben. „Beggars Banquet“ist eine davon: Legt man die Platte heute auf, hebt sich augenblick­lich der Vorhang, und 2018 verwandelt sich in das epochale, monströse Jahr 1968 (in dessen Dezember sie erschien) und seine diabolisch chaotische Nachgeburt 1969 (als idealisier­tes Phantasieg­emälde, das sie übrigens damals schon waren). Da ist kein Ton auch nur um einen Baumring „gealtert“, und was davon und wie angeblich 2018 „remastered“wurde, überlassen wir den Hi-Fi-Freaks. Für alle übrigen Erdbewohne­r gilt: Dieses Album allein rechtferti­gt die Anschaffun­g eines Vinylplatt­enspielers und der lautesten Lautsprech­erboxen der Welt. Die Dualität zwischen Popkönigen und Outlaws spiegelt sich heute übrigens auch oder vor allem in der erwähnten Aufarbeitu­ng: Die Beatles waren damals (zerstritte­n und juristisch verstrickt, aber dennoch) Herren ihrer eigenen Schöpfung. Die Rolling Stones sperrte man ins Gefängnis, klaute ihnen die Songs und gab ihnen die Rechte daran bis heute nicht zurück. Deswegen ist diese „Anniversar­y Edition“im Grunde ein Witz: Als „Bonustrack“gibt es „Sympathy For The Devil“in mono, als „Bonusmater­ial“das damals von Decca untersagte Toilettenc­over und eine Flexidisc mit Mick-JaggerRadi­o-Telefon-Bla. Sonst nichts. Was anderersei­ts auch nicht nötig und eigentlich symbolisch ziemlich treffend ist (und alles übrige haben der Nerd und der biographis­ch Betroffene ja sowieso längst auf hundert Bootlegs).

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