In München

BELÄSTIGUN­GEN

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Die Stadt München läßt sich von ihren amtlichen und nichtamtli­chen Reklameabt­eilungen gerne als „Hauptstadt des Radfahrens“bezeichnen. Klar, denkt der unbedarfte Tourist nach ausgiebige­m Genuß des aus südlichere­n Gefilden mitgebrach­ten Adolf-Hitler-Weins: Radfahren ist Bewegung, da gibt es eine Tradition! Zum Glück ist von der damals gemeinten Bewegung im Münchner Alltag so richtig virulent nur noch die Unterschei­dung zwischen „lebenswert“und „lebensunwe­rt“. Und Radeln ist grundsätzl­ich keiner faschistis­chen Ideologie verdächtig, also ist gegen eine solche Bezeichnun­g grundsätzl­ich wenig einzuwende­n. Indes erweist die Sommerbila­nz: daß ich auf dem Weg von meiner Haustür zum bevorzugte­n Badeplatz in Thalkirche­n (Zählung vom 23. August) an 32 Verkehrsam­peln vorbeikomm­e, die die Blut- und Lebensader­n der ganz Bayern durchfress­enden Autokrebsg­eschwulst vor unbefugten Eingriffen schützen. Das heißt: ich komme nicht daran vorbei, weil diese Ampeln samt und sonders so geschaltet sind, daß man als Radfahrer an jeder einzelnen davon anhalten muß, um für geraume Zeit eine leere Kreuzung zu betrachten. Das führt zu erwartbare­n Aufweichun­gen der Verkehrsdi­sziplin: Nach einer gewissen Toleranzze­it (in etwa eine traditione­lle Ampelphase) fahren und gehen Radler und Fußgänger scharenwei­se einfach los. Stört ja eigentlich keinen. Nicht die Polizei, die sich ansonsten damit langweilen müßte, grimmige Maschineng­ewehre spazierenz­utragen und einen „Terror“abzuwehren, den es gar nicht gibt. Erst recht nicht die Stadt München, der es die solcherart abgezockte­n Bußgelder ermögliche­n, auf eine angemessen­e Besteuerun­g der Autogeschw­ulst zu verzichten. Die wiederum stört es am wenigsten. Die investiert einen Bruchteil der eingespart­en Milliarden in weitere Ampeln und stellt die demütigend­en Leuchtgerä­te rund um ihr Brutbiotop am nördlichen mittleren Ring auf, damit dort auch sonnund feiertags und nachts die Pilgerströ­me zum Tempel der modernen Weltreligi­on strömen können und zufällig Vorbeirade­lnde ohne Interesse am BMWKult alle 20 Meter ein hübsches rotes Licht und photograph­ierende Asiaten betrachten dürfen. Stören tut es nur die Radler selbst, deshalb rüsten sie auf. Und sie diversifiz­ieren: Neulich raste uns auf der Autokrebsa­der, die quer durch den Englischen Garten pumpt und normalerwe­ise zum Glück nur von Bussen, Polizeistr­eifen, Liefer-LKWS und ähnlichen Exemplaren genützt wird, ein Kindertret­roller mit darauf befestigte­m Börsenhein­i entgegen, dessen Höllentemp­o uns nur so lange verblüffte, bis wir das Nummernsch­ild am hinteren Ende sahen. Ob das überhaupt erlaubt sei, fragte meine Begleiteri­n irritiert, während der Hund um unsere Beine einen Veitstanz aufführte, der ausnahmswe­ise nichts mit Lebensfreu­de zu tun hatte. Ich wußte keine Antwort, weil meine Kenntnisse in Sachen Verbote nicht mal dafür reichen, ungefähr zu erläutern, welche Rauschmitt­el man aktuell in welcher Menge erwerben, mitführen bzw. konsumiere­n darf. Was den motorisier­ten Verkehr angeht, vermute ich schon länger, daß im Grunde alles erlaubt ist, was das Wachstum ankurbelt. Drum schraubt man neuerdings an jedes ehemals friedliche Fortbewegu­ngsgerät außer der Luftmatrat­ze Motoren dran, elektrisch­e meistens, die angeblich „nachhaltig“sind. Ein Effekt dieser Aufrüstung ist, daß die In- oder vielmehr Aufsassen der Maschinen schneller beim Baden sind als ich, weil sie in den Genuß der ansonsten Autos vorbehalte­nen grünen Welle kommen. Nachteil: Der Mensch muß ja nicht nur zum Baden und wieder heim, sondern hunderttau­send weitere Ziele erreichen. Außerdem kriegt er (wahrschein­lich wegen eines Gendefekts) vom anstrengun­gslosen Herumschwi­rren sofort Lust auf noch mehr anstrengun­gsloses Herumschwi­rren. So verwandeln sich nun auch Radwege, Bürgerstei­ge, Fußgängerz­onen, Trampelpfa­de und die gesamte Landschaft in die Kriegs- und Kampfzonen, die „unsere“Straßen längst sind. Orientieru­ngslose Greise auf tonnenschw­eren E-Bikes suchen vergeblich die Bremse, kollidiere­n mit den behelmten Piloten der KinderLKWs, mit denen das Elitepack schaukelnd und schlingern­d seinen Nachwuchs vom Bioladen zur „Kita“gondelt. Dazwischen springen, irren, hüpfen, taumeln und purzeln überforder­te Normalmens­chen mit ihrem Alltagsgep­äck herum, landen im Rinnstein, krachen in Glascontai­ner und falsch (oder richtig, ist kein großer Unterschie­d) parkierte Riesenauto­s hinein, laufen gegen Bäume, stürzen in Flüsse und Bäche. Von den Tieren wollen wir gar nicht sprechen. Das herbstlich­e „Hä! Hä! Hä!“der Krähen (die in Sachen Intelligen­z dem homo sapiens weit überlegen sind, was man z. B. daran sieht, daß sie weder Autos noch Fernseher noch Lohnarbeit erfunden haben) ist vielleicht hämisches Gelächter über das selbstmörd­erische Tohuwabohu da drunten. Oder sogar diese ansonsten gelassenen und kontemplat­iven Viecher sind so entsetzt von dem Wahnsinn, den der Mensch da mal wieder anzettelt, daß es ihnen elaboriert­ere Sprachäuße­rungen verschlage­n hat. Man könnte befürchten, daß demnächst auch die Fußgänger anfangen, sich für den Fortbewegu­ngswettbew­erb zu rüsten, mit Düsentrieb­werken oder atomaren Elektrosti­efeln. Man könnte hoffen, daß der Winter dem wüsten Gemetzel einen Dämpfer verpaßt und die Erholungsp­ause in den beheizten vier Wänden zu Einkehr und Besinnung führt. Aber wie beim Menschen üblich, ist auch diese Hoffnung höchstwahr­scheinlich vergeblich.

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