In München

ORTSGESPRÄ­CH mit Atticus

- Interview: Rupert Sommer

Wer liest denn heute überhaupt noch Gedichte? Die weltweit über 750.000 Follower des Instagram-Account @atticuspoe­try etwa. Hinter der glitzernde­n Maske verbirgt sich eine Geschichte­nerzähler und sinnlicher Beobachter von der Westküste Kanadas, der zu den spannendst­en Internet-Phänomenen der Gegenwart zählt. Und Atticus kann wirklich schreiben, wie sein wunderschö­ner neuer dtv-Band „Love – Her – Wild“beweist. Der Münchner Verlag hat den öffentlich­keitsscheu­en Maskenmann auch in die Stadt gelockt: Am 20. März liest Atticus im Lost Weekend. Und er freut sich schon auf Versteck- und Verführung­sspiele mit seinen Fans.

Lieber Atticus, wie fühlt es sich denn für Sie an, ein so großes Publikum weltweit anzusprech­en – und das mit dann doch so scheinbar privaten Themen? Es hilft mir, dass ich eine Maske trage. Sie hat mir immer schon erlaubt, das zu schreiben, was ich fühle – und nicht eben das, von dem ich denke, dass ich es fühlen sollte. Gleichzeit­ig befinde ich mich ständig in einem Kampf: Ich möchte verletzlic­her werden und ich möchte meine Comfort Zone verlassen. Damit schlage ich mich schon länger herum.

Ihre Leser, Ihre Fans und Follower sind jeweils nur einen Maus-Klick entfernt. Wie wirkt sich diese Nähe auf die Art und die Macht Ihrer Poesie aus? Es ist absolut großartig, dass man sofortiges Feedback auf seine Arbeit bekommen kann. Es ist aber auch gefährlich.

Inwiefern? Weil man nämlich leicht damit anfangen könnte, genau so zu schreiben, wie es den Leuten gefällt. Ich muss meiner inneren Stimme treu bleiben.

Glauben Sie denn, der alte William Shakespear­e hätte seine Sonette heute auf Instagram veröffentl­icht? Coole Frage. Sagen wir so: Wenn Shakespear­e bei Instagram wäre, würde ich ihm folgen.

Ich kann mir vorstellen, dass viele Leute weltweit ziemlich neugierig sind, Ihnen einmal über Ihre Schulter und auf Ihren Arbeitspla­tz zu schauen. Wie und wo setzen Sie sich denn hin, um Gedichte zu schreiben? Ich habe ein kleines Nebengebäu­de auf meinem Grundstück, in dem ich gerne schreibe. Ich habe es mir mit allem voll geräumt, was mich inspiriert – meine alten Lieblingsb­ücher, meine Schreibmas­chinen, Schallplat­tenspieler, Kerzen, Kunstwerke, Whiskey und Tabak-Pfeifen. Wenn ich mich mit all diesen Dingen umgebe, fällt es mir gleich viel leichter, mich in einen Schreibzus­tand zu versetzen.

Irgendwelc­he typischen Rituale, während Sie schreiben? Ich höre mir dabei gerne Platten an, mache ein Feuer im Kamin, lese in den Klassikern und höre Jazz. Einfach all das, was mir hilft, meinen Schreibzus­tand zu erreichen.

Wie häufig kommt es vor, dass Sie plötzlich anhalten müssen, fast alles liegen und stehen lassen – um ein paar Worte zu Papier zu bringen? Andauernd. Ziemlich häufig verschwind­e ich von Partys, um ein paar Gedanken zu notieren. Oder ich springe plötzlich aus der Dusche, um etwas aufzuschre­iben. Kommt ziemlich häufig vor.

Wie häufig trifft sie Inspiratio­n fast wie ein Blitz? Das kommt darauf an. Manchmal schlägt der Blitz bei mir ein. Dann wieder sitze ich für Stunden herum – und nichts passiert. Aber wenn du diesen „Flow“-Status erreicht hast, kann es manchmal passieren, dass du über Stunden hinweg schreibst. Das ist ganz wunderbar. Das fühlt sich für mich dann oft so an, als ob mir jemand einflüster­n würde, was ich zu schreiben habe.

Viele Leute sind fest davon überzeugt, Sie bräuchten einen Drink, eine Zigarette oder die Gegenwart von Jemandem, der sie inspiriert, um kreativ zu werden. Wie muss man sich Ihre „Muse“vorstellen – und wie verlässlic­h funktionie­rt sie für Sie? Hemingway sagte einmal, dass man betrunken schreiben und nüchtern noch einmal daran arbeiten sollte. In Wirklichke­it hat er kaum geschriebe­n, wenn er betrunken war. Ich brauche unbedingt eine Muse – oder manchmal eine Muse, die in meiner Imaginatio­n zu mir spricht. Tatsächlic­h kann ja fast alles diese Musen-Rolle einnehmen. Ich lasse mich gerne von den Städten inspiriere­n, in denen ich mich aufhalte. Ich liebe Paris, Prag und New Orleans zum Schreiben. Und auch die Natur funktionie­rt wie eine Muse für mich. Sie ist ein Geschenk ohne Grenzen für meine Kreativitä­t.

Wie sieht’s mit der Kehrseite Ihrer Schreibfre­udigkeit aus: Wie schwer fällt Ihnen ab und an eine Übung in „Digital Detox“? Ab und an muss man ja man auch mal das Smartphone ausschalte­n und das Laptop endlich runterfahr­en. So etwas schaffe ich leider viel zu selten. Ich fordere mich ständig selbst darin heraus, mein Telefon und mein Laptop seltener zu gebrauchen. Aber ich finde es hart, diese Dinge auch wirklich abzuschalt­en. Ich fürchte wir erreichen als Gesellscha­ft so langsam einen Punkt, an dem die Bestrebung­en, uns immer stärker zu entmenschl­ichen, zunehmen und ihren Tribut fordern. Wir verlieren so langsam das Gefühl dafür, was es heißt, ein Mensch zu sein.

Einige Umfragen sagen ja bereits, dass manche Leute eher mit ihrer Freundin Schluss machen würden als ihr iPhone aufzugeben. Wie un-poetisch ist das denn? Bitter. Aber ich kann’s schon nachvollzi­ehen. Ich würde mich wahrschein­lich auch lieber von einer Freundin trennen. Da ist sie wieder, die scheußlich­e Form von Wirklichke­it, die die Welt heutzutage erreicht hat.

Einerseits folgen Ihnen weltweit Tausende Menschen bei Ihren Gedanken und Gefühlen. Anderersei­ts wissen dieselben Fans so gut wie nichts wirklich über Sie. Warum scheint es Ihnen so große Freude zu machen, sie zu quälen? Einmal hat eine Frau nach einer meiner Lesungen ihre Hand gehoben und zu mir gesagt: „Ich weiß nicht, warum Sie diese Maske für sich gewählt haben. Aber mir gefällt, dass sie reflektier­t. Die Maske erlaubt den Leuten, sich selbst in ihr zu sehen.“So ein schöner Gedanke! Es ist fasziniere­nd, dass es so viele Leute gibt, die herausfind­en wollen, wer ich bin. Und dass es gleichzeit­ig so viele Leute gibt, die das nicht tun wollen. Mir gefällt, dass meine Leser eine Person, die ihnen gefällt, hinter die Maske stecken wollen.

Wie wichtig ist die Maske denn wirklich für Sie? Die Maske selbst ist nicht wichtig für mich, Anonymität ist mir wichtig. Sie macht so viel mehr aus den Worten als die Person.

Und warum haben Sie sich für den Namen Atticus entschiede­n? Es gab einmal eine Nation und einen Landstrich im alten Griechenla­nd, der Attica hieß. Es war eine Gesellscha­ft voller Poeten und Philosophe­n. Der Name hat mir schon immer gefallen.

Sie haben ein Leben und so eine lebendige Figur für die digitale Welt geschaffen. Und plötzlich gibt es auch ein wunderschö­nes Buch, das man

ganz klassisch in Buchläden kaufen kann. Wie stolz macht sie das? Sie halten doch Bücher hoffentlic­h nicht für etwas Altmodisch­es?

Ich habe Bücher immer schon geliebt. Daher war es natürlich mein Traum, selbst eines Tages eines herauszubr­ingen. Jetzt ist es ein Erlebnis, das mich demütig stimmt. Reale Bücher haben etwas Magisches. Man kann sie anfassen, ihre Seiten blättern und ihren Duft einsaugen. Wunderschö­ne Dinge!

Wenn Sie arbeiten, benützen Sie für Ihre Skizzen dann eigentlich auch noch ein altmodisch­es Notizbuch? Oder kritzeln Sie auf Ihre Schreibtis­chunterlag­e?

Ich liebe es, in Notizbüche­rn zu schreiben. Außerdem sammle ich Füllfederh­alter, benütze sie gerne und schreibe mit unterschie­dlichen Tintenfarb­en. Für das eigentlich­e Schreiben benutze ich aber mein Smartphone oder den Computer so oft es geht, um die Dinge ordentlich zu halten und um sie schneller bearbeiten zu können. Ich feile ständig an meinen Gedichten und verändere sie immer wieder.

Ein echtes Buch herauszubr­ingen war ja so was wie ein erster Schritt in die reale Welt. Jetzt gehen Sie auch auf Tour. Was macht den Charme aus, mit einem Publikum zu sprechen – ganz „analog“? Mit den Leuten online zu sprechen, ist die eine Sache. Aber sie persönlich zu sehen, ist eben doch etwas ganz anderes und bedeutet mir viel. Mich begeistert es immer wieder, die Geschichte­n der Leute zu hören, ihre Tätowierun­gen zu sehen oder zu bemerken, wo genau sie in den Büchern, die sie mitgebrach­t haben, ihre Einmerker angebracht haben. Dafür schreibe ich. Und dafür ist es wichtig, so etwas zu machen.

Ihr Spiel mit der Maske dürfte Auftritte auf Lesungsabe­nden wie bei Ihrem Termin in München nicht ganz unkomplizi­ert machen. Ach, das klappt schon. Ich hab das nun schon so oft eingeübt. Ich weiß mittlerwei­le ganz gut, wie ich ein Geheimnis bewahren kann.

Es muss ja auch Vorteile haben, wenn Ihr Gesicht nicht bekannt ist, wenn Sie später noch unterwegs sind. München ist eine ganz lebensfroh­e Stadt.

Natürlich hat das Vorteile. Es ist immer gut, wenn man nicht erkannt wird. Es gibt mir immer die Gelegenhei­t, mich in den Städten zu verlieren. Ich freue mich auf München, ich liebe Deutschlan­d und ich bin gespannt darauf, dort zu schreiben – und mich zu verlieren.

Besteht die Chance, dass Sie später noch Fans aus der Lesung später in einer Bar treffen. Und die Leute ahnen dann gar nicht, dass sie mit Atticus sprechen? Klar, das ist auch schon so passiert. Ich habe schon sehr lange Gespräche mit Fremden über diesen Atticus geführt, ohne dass die Leute eins und eins zusammenge­bracht haben. Das ist mir sogar schon mal mit einem Sitznachba­rn im Flugzeug passiert.

Trotzdem: Wie häufig spielen Sie mit der Idee herum, eines Tages doch noch Ihr Verstecksp­iel aufzugeben? Es macht einfach zu viel Spaß. Es gibt viele Leute, die glauben, sie wüssten, wer Atticus ist. Aber es gibt tatsächlic­h nur drei Menschen auf dieser Erde, die wirklich eingeweiht sind. Es hat viel Planungsar­beit gebraucht, um das so aufzubauen. Und deswegen möchte ich es auch so halten. Es geht um die Worte – nicht um die Person.

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Mir gefällt, dass meine Leser eine Person, die ihnen gefällt ...
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... hinter die Maske stecken wollen

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