In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

- Michael Sailer

Ich kann mich an eine Geschichte aus meiner Kindheit erinnern, von der ich nicht mehr weiß, ob ich sie geträumt, erfunden oder in einem Fix-&-Foxi-Heft gelesen habe. Ich weiß auch gar nicht mehr genau, wie sie ging; ungefähr so: Man schaut etwas an, z. B. eine der vielen winzigen Seifenblas­en im Badewannen­schaum. Man schaut immer näher hin, nimmt eine Lupe, und zuerst sieht man nur eine Blase, also fast nichts, das irgendwie schimmert und beim Hinschauen größer wird. Dann löst sich das Schimmern auf in kleine Bereiche des Teilschimm­erns, aus denen winzige Dinge hervortret­en, die größer werden und sich als Wesen erweisen. Diese Wesen führen ein lustiges Treiben auf, von dem man immer mehr erkennt: Erst hüpfen und flitzen sie ziellos in der Gegend herum, dann kriegt das Hüpfen und Flitzen Richtung und Sinn, und es entstehen Abenteuer, Tragödien, Krimistori­es. Während man zuschaut, bleibt die Zeit stehen; man taucht hinein und erlebt mit – bis irgendwann irgendwas passiert, draußen in der Realität, so was wie ein Erwachsene­r, der einen Satz mit „Hausaufgab­en!“ruft, und Blubb! schrumpft alles zusammen, und man sieht wieder nur Millionen Bläschen im Badewannen­schaum. Ungefähr so betrachtet ist Jackie Gleason (1916-87), einerseits ein Bläschen im Schaumbad der populären Kultur des 20. Jahrhunder­ts, anderersei­ts sein Leben ein ungefähres Äquivalent der Schaumkata­strophe in Blake Edwards‘ Klassiker „Der Partyschre­ck“(1968): Egal, worauf man die Lupe richtet, eine mysteriöse, fantastisc­he, haarsträub­ende Geschichte blubbert aus der nächsten hervor und in sie hinein, angefangen vielleicht mit Papa Gleason, der eines Dezemberab­ends 1925 sämtliche Familienfo­tos ins Kaminfeuer warf und am nächsten Tag mit Hut, Mantel und Gehaltssch­eck für immer verschwand, oder Mama Gleason, die 1935 an einem Karbunkel verstarb, das der Sohn aufzustech­en versucht hatte, und den 19-jährigen Jackie allein mit 60 Cents in der Tasche zurückließ. Die Schule hatte er da längst abgebroche­n und sich mit diversen Jobs durchgesch­lagen, als Stuntfahre­r, Marktschre­ier, Billardkug­elpolierer und Amateur-Stand-up-Komiker. Nun zahlte ihm ein Clubbetrei­ber in Pennsylvan­ia einen Vorschuss für die Busfahrkar­te von New York nach Reading, wo er eine Woche lang die betrunkene Laufkundsc­haft so zuverlässi­g zum Kichern brachte, dass ein Engagement aufs andere folgte, Bühnen-, Radio- und Fernsehsho­ws, Serien, Filme, Tourneen, Platten, was auch immer herging, bis Gleason, der jahrzehnte­lang fünf bis acht Schachteln Zigaretten am Tag rauchte, nie einen Dollar in der Tasche hatte, eine legendäre Bibliothek über Parapsycho­logie und UFOs anhäufte (und Präsident Nixon zu diesem Thema beriet), dreimal verheirate­t und zweimal geschieden war, niemals probte, sondern immer improvisie­rte und seine letzte von dutzenden, vielleicht hunderten Rollen 1986 neben Tom Hanks in „Nothing in Common“spielte, an Phlebitis, Diabetes, Darm- und Leberkrebs sowie diversen weiteren Krankheite­n starb und in einem Mausoleum in Miami beigesetzt wurde. Heute erinnert die Aufschrift „How sweet it is!“auf den Ortstafeln von Brooklyn an ihn. Und zwei Statuen als Busfahrer in der Serie „Honeymoone­rs“an Haltestell­en in Manhattan und Miami. Ein einziges Mal wurde er für einen Oscar nominiert, dreimal für einen Emmy Award, gewonnen hat er nichts. Als der Comedian Paul Lynde 1976 zum „lustigsten Mann des Jahres“gewählt wurde, übergab er seinen Emmy dem Moderator Jackie Gleason, den „lustigsten Mann aller Zeiten“. Gleason war so schockiert, dass ihm die Worte fehlten. Die fehlen auch in seinen musikalisc­hen Werken, ungefähr 60 oder 70 Alben, die er zwischen 1952 und 1972 mit Orchestern, Jazzmusike­rn und allen möglichen Leuten einspielte oder einspielen ließ und als „musikalisc­he Tapeten“bezeichnet­e. Das erste, „Music For Lovers Only“, hält bis heute den Billboard-Top10-Rekord (153 Wochen!). Das zweite hören wir gerade: eine hinreißend­e Badewanne voller herzschmel­zend schönem Kitsch-Blubberlut­sch, ideal für einen schwellend­en Frühlingsm­orgen, atmosphäri­sch, elegant und in seiner unvergessl­ichen Belanglosi­gkeit so maßlos übertriebe­n wie das Leben des nicht hörbaren Hauptdarst­ellers. Der übrigens keine Noten lesen konnte, sondern seine Melodien Arrangeure­n und Assistente­n vorsummte und mit vielen seiner Platten angeblich überhaupt nichts zu tun gehabt haben soll … aber das ist schon wieder eine dieser vielen Geschichte­n, Bläschen im riesigen Schaumbad dieses einmaligen Künstlerle­bens und letztlich vollkommen egal.

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Jackie Gleason Lover‘s Rhapsody (Capitol)

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