Ich, moi und myself
Jim Dine im Kunstfoyer: das Selbstporträt als radikale Form der Selbsterkundung
Die Frage ist doch, warum man sich anschaut. Im Spiegel zum Beispiel. Untertags, zwischendrin. Will man sich wirklich sehen, im Sinne von begegnen? Oder checkt man nur kurz: Ah ja, das bin ich. Passt. Vergewissert sich, dass man da ist. Gleicht das Bild, das man von sich im Kopf gespeichert hat, ab mit dem, was einem die Welt zurückspiegelt. Alles okay? Sitzt die Mimik und ist mein Erscheinungsbild gesellschaftskonform oder sollte ich mich besser filtern? Meistens blicken wir nicht als Ich auf uns, sondern als eine Art externes Über-Ich. Es geht um das, was die Anderen von uns zu sehen bekommen, es geht um das äußere Erscheinungsbild, unsere Hülle. Und mal ehrlich: Sehr oft ist das, was die Anderen von uns zu sehen bekommen, auch uns selbst genug. Genauer wollen wir gar nicht wissen, was gerade wirklich mit uns los ist. Jim Dine will wissen, was mit ihm los ist. Er schaut sich an, immer wieder. Und hat festgehalten, was er sah. Mit dem Pinsel, mit Kreide, mit Stiften, mit dem Fotoapparat, auf Papier, auf Leinwand, auf Karton. „Eigentlich“, sagt er, „habe ich immer ein Selbstporträt in Arbeit.“60 dieser Selbstbildnisse kann man jetzt unter dem Titel „Jim Dine. I never look away.“im Kunstfoyer sehen. Entstanden ist die Ausstellung in Zusammenarbeit mit dem Albertina Museum in Wien, dem Dine letztes Jahr einen Teil seines Archivs, nämlich insgesamt 230 Selbstporträts, geschenkt hat. Und auch wenn wir uns in Zeiten der stündlichen Selfie Selbstvergewisserung denken mögen „noch einer, der nicht genug von sich bekommt“– lassen sich vom Gegenteil überzeugen. Dines Selbsterkundung ist quasi der Gegenentwurf zum Selfie. Dem 83-jährigen ging es nie um die Außendarstellung, sondern immer um die Begegnung mit seinem Ich. Er nennt das „meinen Spiegelreflex“und erklärt: „Wenn ich an einem Spiegel oder einer reflektierenden Oberfläche vorbeigehe, werfe ich (…) einen gründlichen Blick auf mein Gesicht (…) Ich bin es, der mich selbst beobachtet, um in der Sekunde, in der ich mich selbst im Spiegelbild wahrnehme, das sogenannte Selbstporträt zu revidieren, zu formen. Ich kann dann ohne Kreide oder Stift im Kopf korrigieren, eine versehentliche Linie ausradieren und spüre auch das psychologische Moment, wenn mein Gesicht so aussieht, als hätte ich es noch nie zuvor gesehen. Ich sehe nie weg.“In einem seiner Gedichte, die immer wieder zwischen den Bildern auftauchen, spricht er von sich als „Mir selbst hinterher laufend“. Es ist sein schonungslos fragender und beobachtender Blick, der alle Porträts miteinander verbindet. Bewusste Distanzierung von der eignen Person, um sich selbst überhaupt wahrnehmen zu können. Als Dine nach seinem Kunststudium in Ohio Ende der 1950er Jahre anfing, als Künstler zu arbeiten, wählte er meist gegenständliche Motive wie Bademäntel, Herzen, Stiefel oder Werkzeuge. Also stellte man ihn in die Pop-Art-Ecke zu Andy Warhol, Wayne Thiebaud oder Roy Lichtenstein. Keine schlechte Gesellschaft, aber letztlich nur ein Label, das nicht allzu viel mit seiner psychologisch motivierten Herangehensweise zu tun hatte. Dine sieht sich keiner Kunstrichtung zugehörig. Er legt eher Wert auf die Blickrichtung. Und die ist bei ihm nach innen gerichtet.
Auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Vier Jahre lang arbeitete Jim Dine an diesem „Selbstporträt“. 1989 fing er an.