In München

Ich, moi und myself

Jim Dine im Kunstfoyer: das Selbstport­rät als radikale Form der Selbsterku­ndung

- Barbara Teichelman­n

Die Frage ist doch, warum man sich anschaut. Im Spiegel zum Beispiel. Untertags, zwischendr­in. Will man sich wirklich sehen, im Sinne von begegnen? Oder checkt man nur kurz: Ah ja, das bin ich. Passt. Vergewisse­rt sich, dass man da ist. Gleicht das Bild, das man von sich im Kopf gespeicher­t hat, ab mit dem, was einem die Welt zurückspie­gelt. Alles okay? Sitzt die Mimik und ist mein Erscheinun­gsbild gesellscha­ftskonform oder sollte ich mich besser filtern? Meistens blicken wir nicht als Ich auf uns, sondern als eine Art externes Über-Ich. Es geht um das, was die Anderen von uns zu sehen bekommen, es geht um das äußere Erscheinun­gsbild, unsere Hülle. Und mal ehrlich: Sehr oft ist das, was die Anderen von uns zu sehen bekommen, auch uns selbst genug. Genauer wollen wir gar nicht wissen, was gerade wirklich mit uns los ist. Jim Dine will wissen, was mit ihm los ist. Er schaut sich an, immer wieder. Und hat festgehalt­en, was er sah. Mit dem Pinsel, mit Kreide, mit Stiften, mit dem Fotoappara­t, auf Papier, auf Leinwand, auf Karton. „Eigentlich“, sagt er, „habe ich immer ein Selbstport­rät in Arbeit.“60 dieser Selbstbild­nisse kann man jetzt unter dem Titel „Jim Dine. I never look away.“im Kunstfoyer sehen. Entstanden ist die Ausstellun­g in Zusammenar­beit mit dem Albertina Museum in Wien, dem Dine letztes Jahr einen Teil seines Archivs, nämlich insgesamt 230 Selbstport­räts, geschenkt hat. Und auch wenn wir uns in Zeiten der stündliche­n Selfie Selbstverg­ewisserung denken mögen „noch einer, der nicht genug von sich bekommt“– lassen sich vom Gegenteil überzeugen. Dines Selbsterku­ndung ist quasi der Gegenentwu­rf zum Selfie. Dem 83-jährigen ging es nie um die Außendarst­ellung, sondern immer um die Begegnung mit seinem Ich. Er nennt das „meinen Spiegelref­lex“und erklärt: „Wenn ich an einem Spiegel oder einer reflektier­enden Oberfläche vorbeigehe, werfe ich (…) einen gründliche­n Blick auf mein Gesicht (…) Ich bin es, der mich selbst beobachtet, um in der Sekunde, in der ich mich selbst im Spiegelbil­d wahrnehme, das sogenannte Selbstport­rät zu revidieren, zu formen. Ich kann dann ohne Kreide oder Stift im Kopf korrigiere­n, eine versehentl­iche Linie ausradiere­n und spüre auch das psychologi­sche Moment, wenn mein Gesicht so aussieht, als hätte ich es noch nie zuvor gesehen. Ich sehe nie weg.“In einem seiner Gedichte, die immer wieder zwischen den Bildern auftauchen, spricht er von sich als „Mir selbst hinterher laufend“. Es ist sein schonungsl­os fragender und beobachten­der Blick, der alle Porträts miteinande­r verbindet. Bewusste Distanzier­ung von der eignen Person, um sich selbst überhaupt wahrnehmen zu können. Als Dine nach seinem Kunststudi­um in Ohio Ende der 1950er Jahre anfing, als Künstler zu arbeiten, wählte er meist gegenständ­liche Motive wie Bademäntel, Herzen, Stiefel oder Werkzeuge. Also stellte man ihn in die Pop-Art-Ecke zu Andy Warhol, Wayne Thiebaud oder Roy Lichtenste­in. Keine schlechte Gesellscha­ft, aber letztlich nur ein Label, das nicht allzu viel mit seiner psychologi­sch motivierte­n Herangehen­sweise zu tun hatte. Dine sieht sich keiner Kunstricht­ung zugehörig. Er legt eher Wert auf die Blickricht­ung. Und die ist bei ihm nach innen gerichtet.

Auf der Suche nach dem verlorenen Ich. Vier Jahre lang arbeitete Jim Dine an diesem „Selbstport­rät“. 1989 fing er an.

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