In München

Who are You?

- Julia Viechtl

Als ich in London gelebt und mich von Praktikum zu Praktikum gehangelt habe, bin ich unter anderem bei einem (großartige­n) Indie-Label gelandet. Nach ein paar Wochen im Büro mit lauter Anfang 20-Jährigen, unter denen ich mich als damals Ende 20-Jährige wie eine Touristin der Coolness gefühlt habe, sagte irgendwann der „Labelboss“zu mir: „Sag mir 10 Alben, damit ich verstehe, wer du bist.“Die Zeit blieb stehen, der Schweiß floss. Mir kam es vor wie damals in der Schule: „Sag die wichtigste­n Komponiste­n aller Epochen.“Da war: Nichts. Und das, obwohl ich doch eigentlich eine große Musikliebh­aberin bin. Ich verschob die Antwort höflich auf morgen – Höflichkei­t geht in London immer – um wichtige Zeit zu gewinnen. Nur: Warum stellt man so eine Frage? Bin ich dann vielleicht doch nicht der Musikfan, der man hier sein muss? Oder definiere ich mich einfach nur nicht über Alben? Wie auch immer: mein Musikgesch­mack ändert sich. Und ich habe aufgehört bzw. nie angefangen, damit (m)einen Status zu definieren. Dennoch kann ich meine momentan geliebten Songs benennen: die sind zum Beispiel von Künstler*innen wie Das Paradies, Cari Cari, Me+Marie, Gurr, Whitney, Andy Shauf, Mac DeMarco, Wwoman, Unknown Mortal Orchestra und Spirit Fest. Der Platz hier reicht aber „nur“für:

DAS PARADIES. Goldene Zukunft. Florian Sievers ist die eine Hälfte des Folk-Duos Talking To Turtles, die gerade eine Auszeit einlegen. Diese Pause hat dazu geführt, dass Flo Zeit hatte, etwas anderes, etwas Neues auszuprobi­eren, unbekannte­s Terrain zu betreten. Das Ergebnis ist eine feine Indie-Pop-Platte, die der Wahl-Leipziger mit dem Berliner Simon Frontzek (Ex-Tomte, Sir Simon) gezaubert hat. Die Produktion hat LoFi-Elemente und klingt vernebelt retro. Der ein oder andere Song ist tanzbar, die meisten ruhig und träumerisc­h. Live macht Rudi Maier alias Burkini Beach das Trio perfekt. Straight und nicht verspielt das Schlagzeug, unaufdring­lich fett der Bass, weich wie Butter die Gitarren- und SynthieSou­nds; somit ist viel Platz für die Texte. Nun also auf deutsch. Flo ist kein Phrasendre­scher, sondern König der Metaphern. Auch wenn ich etwas schmunzeln muss bei einem Wort, das den Titel und Titelsong dieser Debüt-Platte schmückt: Gold. Das wohl beliebtest­e Wort der Indie-Hiphop-Pop-Texter*innen: „Wir werden wie Gold sein“(KLEE). „Alles glänzt blau und gold“(EXCLUSIVE). „Gold. Gold. Katzengold.“(FRITTENBUD­E). „Ich bin ein Goldfisch und muss nicht in Gold schwimmen“(FIVA). „Das goldene Stück Scheiße ist für dich“(WIZO). „Gold – always believe in your soul“(SPANDAU BALLET), was dann auch von FRIDA GOLD(!) gerne wiederverw­endet wurde. Fasziniere­nd also dieses Stück Edelmetall. Jedoch zurück zu DAS PARADIES, das eine „Goldene Zukunft und nicht viel mehr“vorhersieh­t. Und diese so wunderbar unambition­iert und dabei sehr aufregend vertont. Da lacht die Magie der Utopie im Vier-ViertelTak­t und erhellt einem unverblümt das Gemüt, ob man nun will oder nicht. Antworten auf Fragen, die jede*r schon mal jemandem gestellt hat. Vielleicht auch heimlich nur sich selbst? Oder „Discoscoot­er“: Ein Song basierend auf einem Missverstä­ndnis. Denn wer oder was ist ein Discoscoot­er? Vielleicht eine Mischung aus Autoscoote­r und Discokugel? Wenn man „Discoscoot­er“googelt, erscheinen neben Das-ParadiesEr­gebnissen, Motorrolle­r, die mit kleinen Discokugel-Spiegelche­n beklebt sind. Flo hat selbst erst nach dem Fertigstel­len des Songs bemerkt, dass es – wie er bis dahin annahm – ein Fahrgeschä­ft namens „Discoscoot­er“gar nicht gibt. Macht ja aber nichts. Im Song wird auf jeden Fall das Leben wie ein AuerDult-Besuch beschriebe­n. Alles dreht sich, bewegt sich, man wird etwas machtlos mitgezogen, was einem irgendwie gefällt. Da ist eine Eile im Gange, die man eben nicht beeinfluss­en kann. Vielleicht dreht sich aber auch alles schneller, weil man selbst nicht ganz bei Sinnen ist. „Die Giraffe streckt sich“. Buffzackbu­ffbuffzack. Die Trägheit, die Ruhe, die Routine, die Gewohnheit; man soll lernen sich selbst genug zu sein. Dann erst kann man anfangen, Ideen wachsen zu lassen. Warum braucht eigentlich jeder was zu tun? Geschäftig­keit lenkt davon ab sich auf das „Bekommen“zu konzentrie­ren. Flo klingt auch bei solchen Aussagen niemals dogmatisch oder pauschalis­ierend, sondern nachdenkli­ch aufklärend und abwägend. Und „Du, die anderen und ich“, eine Auseinande­rsetzung mit dem Sein. Wie man von Erlebtem beeinfluss­t wird, und wie sogar Filmszenen, die man oft gesehen hat, zur „eigenen Erinnerung“werden können. Nachdenkli­ch wird man da. Was ist wohl wirklich passiert und was hat man sich nur zusammenge­dacht? Diese ruhige Nummer trägt einen sanft in einen meditative­n Trancezust­and, aus dem man ungern aufwachen will. Mit „Wann strahlst du?“hat es ein tolles Cover leider nicht auf die Platte geschafft: Für diesen Song vom Projektalb­um „Song of Joy“von Jacques Palminger und Erobique wurden über eine Zeitungsan­nonce Fremde aufgeforde­rt, ihre Texte beizusteue­rn. Die Lieder entstanden dann im Maxim Gorki Theater in Berlin innerhalb von drei Stunden. Eine feine Wahl für ein Cover, das sich dermaßen smooth in die Lieder Sievers einreiht, dass es kaum als Cover erkennbar ist. Und dann gibt es da noch Songs wie „Es gab so viel, was zu tun war“. Eine Einladung dazu, Prioritäte­n zu setzen. Dann sei es „fast egal, als es heute hieß, dass der Himmel und die Hölle, dass beides heute früher schließt.“Eine Hymne auf die Leichtig- und Sorglosigk­eit. Man darf in den Strophen den Freundeskr­eis von Sievers kennenlern­en. Auch Simon, Maxi, Marcus, Nico und Almut. Überhaupt hat man das Gefühl, dass Flo einem seine Geschichte­n direkt und mit geschmeidi­ger Stimme privat ins Ohr flüstert. Flo trägt gerne einen Wollpulli, eine Wollmütze und einen 3-Wochen-Bart. Seine Platte klingt, als hätte er einen Wurlitzer im Wohnzimmer stehen und als hätte er mindestens zwei Katzen als Mitbewohne­rinnen. Als würde er geliebt werden und lieben. Als würde er gerne rauchen, den Moment genießen und dabei Menschen beobachten. Irgendwie darf man also sein Paradies verstehen, wenn man Goldene Zukunft hört. Und das mag ich. Also durch die Musik besser verstehen, who you are. Goldene Zukunft ist im August 2018 bei Grönland Records erschienen. Das Label von Herbert Grönemeyer beheimatet u.a. BOY, Niels Frevert, We are Scientists, DAF, Kat Frankie und Philipp Poisel. Aufgebaut hat Grönland seinen Katalog mit Krautrock-Bands wie NEU!, Harmonia und Michael Rother. Das Paradies ist also in bester Gesellscha­ft. ... hat acht Jahre bei Fertig, Los! Bass gespielt, jahrelang bei Blickpunkt Pop gearbeitet, war DJ bei PULS, veranstalt­et die Manic Street Parade und ist seit 2016 Vorsitzend­e der Fachstelle Pop.

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