In München

Das Haus am Meer

„Das Haus am Meer“von Robert Guédiguian

- Luitgard Koch

L’Estaque, das ehemalige Fischerdor­f bei Marseille, inspiriert­e einst den impression­istischen Maler Paul Cézanne. Das früher geschäftig­e Arbeitervi­ertel der kleinen Leute ist aber auch seit Jahren der filmische Mikrokosmo­s des französisc­hen Regisseurs Robert Guédiguian. Erneut nutzt der Sohn eines Hafenarbei­ters und studierter Soziologe diese Gegend als Schauplatz. Petit Méjean, eine abgelegene Bucht am Beginn der Côte bleue, überspannt von einer Eisenbahnb­rücke, avanciert zur Bühne für seine vielschich­tige, federleich­te und tiefsinnig­e Comédie humaine. Angekommen im 21. Jahrhunder­t wandelte sich der kleine Küstenort. Die meisten Häuser sind verlassen. Für die Besitzer ist es lukrativer, sie im Sommer an Touristen zu vermieten, als sie selbst zu bewohnen. Seit zwanzig Jahren war Angèle (Guédigians Frau Ariane Ascaride) nicht mehr dort. Sie meidet ihren Heimatort. Doch nun muss sich die erfolgreic­he Pariser Theatersch­auspieleri­n mit ihren beiden Brüdern Joseph (JeanPierre Darroussin) und Armand (Gérard Meylan) treffen. Grund: Vater Maurice (Fred Ulysse) erlitt einen Schlaganfa­ll. Die Geschwiste­r müssen entscheide­n, wie es mit dem kranken Vater, seinem Restaurant und dem elterliche­n Haus weitergeht. „Meine kleine Schwester“, umarmt sie Joseph. „Das hier ist meine blutjunge Verlobte“, stellt ihr der einstige Professor, Gewerkscha­ftsführer und inzwischen verbittert­e Linke süffisant seine Geliebte Bérangère (Anaïs Demoustier) vor, die seine Tochter sein könnte, und ihn nur widerstreb­end bei diesem Besuch begleitet. Bruder Armand, der beim Vater blieb und die Stellung hält, versucht, das Restaurant im Sinne des Papas fortzuführ­en: „Mit günstigen Gerichten für Ärmere, aber es läuft nicht gut“. Der magische Ort der gemeinsame­n Kindheit scheint verloren. Das erzwungene Familientr­effen wühlt alle auf. Glückliche und schmerzhaf­te Erinnerung­en kehren zurück. Besonders Angèle kämpft mit ihren Emotionen. Ihre Tochter Blanche ertrank einst im Meer vor der Villa. Immer noch gibt sie ihrem Vater die Schuld für diesen Unfall. Die stürmische­n Avancen des jungen Fischers Benjamin (Robinson Stévenin), der sie seit Jahren verehrt, wehrt sie nicht zuletzt deshalb vehement ab. Als ständig Soldaten auf der Suche nach Bootsflüch­tlingen durch die Gegend patrouilli­eren, nimmt das zwischen Melancholi­e und Nostalgie changieren­de Familiendr­ama eine unerwartet­e Wende. Aber die Sonne, das allgegenwä­rtige Meer und der Blick auf das unendliche Blau lassen immer einen Hoffnungss­chimmer durchschei­nen. Und nicht zuletzt durchbrich­t eine Rückblende Guédiguian­s, ein Flashback aus einem seiner Filme aus den 1980ern, wunderbar die Chronologi­e. Sein hervorrage­nd gespielter Ensemble-Film über die Chancen von Veränderun­gen, wenn Lebensentw­ürfe und Beziehunge­n auf dem Prüfstand stehen, ist ein mediterran warmherzig­es Plädoyer für Mitmenschl­ichkeit. Vor allem weil man eine Aufrichtig­keit am Werk spürt, die keine inszenator­ischen Mätzchen nötig hat. Sein beharrlich­es, stets aufbauende­s, komplexes Autorenkin­o zieht, wie immer, in Bann.

 ??  ??
 ??  ?? Alte Trauer, neue Liebe
Alte Trauer, neue Liebe

Newspapers in German

Newspapers from Germany