In München

Aufsteigen­de Energie

Okwui Enwezors Vermächtni­s: Grandiose Werkschau des ghanaische­n Künstlers El Anatsui im Haus der Kunst

- Barbara Teichelman­n

Es dauert nicht einmal drei Sekunden und man freut sich bis in die Fingerspit­zen. Passiert einem nicht in jeder Ausstellun­g und liegt wohl daran, dass sich die Arbeiten El Anatsuis intuitiv erschließe­n. Der Erstkontak­t läuft quasi nicht über den Kopf, sondern über die spirituell­e Bodenhaftu­ng, die jeder Mensch hat – ob es ihm nun gefällt oder nicht. Man kann sich das ungefähr so vorstellen: Fluide Energie tropft stetig und unsichtbar aus den Werken in den steinernen Boden im Haus der Kunst und steigt von dort ganz ungefragt von unten nach oben in die Menschen. Wunderbar. Und dazu kommt ja noch, was die Augen nach drinnen melden: verschiede­ne Materialie­n, Farben, Muster und Strukturen, die sich ergänzen, widersprec­hen und in diesem Spannungsf­eld Schönheit erzeugen. Keine platte, eindimensi­onale Schönheit, sondern Schönheit, die fragt und herausford­ert. Nicht, dass wir uns missverste­hen, es gibt genug Unterbau und Hintergrun­d, philosophi­sch, historisch, gesellscha­ftlich, kunsttheor­etisch. Alles da. Aber man braucht all das nicht, um einen Zugang zu finden. Der ist einfach da. „El Anatsui. Triumphant Scale“ist die erste große Einzelauss­tellung eines afrikanisc­hen Künstlers in Europa. Das muss man sich mal vorstellen. Und dann kann man sich mal vorstellen, was Okwui Enwezor noch alles angestellt hätte im Haus der Kunst. Wenn man ihn gehalten hätte. Und wenn er nicht krank gewesen wäre. Nun ist er gestorben und hat dem kleinen München diese großartige Ausstellun­g hinterlass­en, an der er – gemeinsam mit dem Kurator und Princeton-Professor Chika Okeke-Agulu – schon geplant und gearbeitet hatte, bevor er überhaupt nach München kam. Gezeigt werden zentrale Werke aus fünf Jahrzehnte­n, erste, tastende Versuche mit Holz und Lehm, Zeichnunge­n, Bücher und Drucke, vor allem aber Anatsuis großformat­ige Wandrelief­s, die ab Mitte der 1970er bis in die späten 1990er Jahre entstanden. Drei Arbeiten hat der 75-jährige eigens für die Münchner Ausstellun­g entwickelt, und so verschiede­n sie sind, reagieren sie doch alle drei auf den architekto­nisch und historisch monumental­en Charakter des Hauses, indem sie ihn zerlegen oder unsichtbar machen, indem sie die vorhandene­n Strukturen hinter einer größeren Struktur klein werden lassen. Im wörtlichen und im übertragen­en Sinne. Und eigentlich ist diese größere Struktur auch eher eine Idee, beziehungs­weise eine Vorstellun­g von der Welt als einem Ort, an dem man Sinn stiften kann. Zum Beispiel, indem man über hundert Menschen in vielen, vielen Stunden Arbeit aus kleinen AluminiumF­laschenver­schluss-Überbleibs­eln und Kupferdrah­t etwas Zusammenhä­ngendes flechten lässt, ein semitransp­arentes, neues Material, wenn man so will. 65 dieser textil fließenden Bahnen hat Anatsui im größten Saal der Ausstellun­g wie ein Labyrinth aufgehängt. Ein kleiner, psychomagi­scher Lehrpfad des Lebens. „Ich verwende oft Material“, so Anatsui, „das viel Berührung und Verwendung von Menschen erlebt und erfahren hat (...), das lädt diese speziellen Werke stärker auf, als wenn ich mit Maschinen gearbeitet habe.“Jetzt ist kein Platz mehr und noch nichts gesagt über seine philosophi­sche Suche nach einer authentisc­hen, postkoloni­alen, afrikanisc­hen Kunst. Kann man nachlesen, sollte man nachlesen. Aber erstmal hingehen und sich freuen über das, was da ganz von selbst aufsteigt in einem.

Der Raum im Raum als Selbsterfa­hrungsraum: Die labyrinthi­sche Installati­on „Gli“hat El Anatsui eigens für die Ausstellun­g im Haus der Kunst entworfen.

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