In München

FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE

- Michael Sailer

Manchmal hilft nur totale Zerstörung. Z. B. legte mir ein Freund das Debütalbum einer australisc­hen Singer/Songwriter­in ans Herz, das in der Tat recht lieblich und nett klingt. Indes verliefen sich alle Versuche, den Eindruck in Worte zu fassen, wie ein Glas Wasser, in der Wüste verschütte­t, und abgesehen von dem wenig hilfreiche­n Bild der internatio­nalen Singer/Songwriter­ei unserer Tage als staubsandi­ger Wanderdüne bleibt nichts zurück. Statt dessen drängt die Welt heran als Phänomen und Chimäre, als politische, sinnliche, kulturelle, musikalisc­he Aufdrängun­g und Zumutung, als Walze der sinnleeren Bedröhnung, die das Hirn flutet, lähmt, zu ersticken droht. Und da hilft nur totale Zerstörung. Das ist die Stunde der Flying Luttenbach­ers, jener 1991 in Chicago von dem Schlagzeug­er Weasel Walter gegründete­n und aus ihm und wechselnde­n Extremiste­n bestehende­n Band, die genau das als Daseinszwe­ck und (indirekt formuliert­es) Motto hinter ihrem vermeintli­ch harmlosen Namen führt: totale Zerstörung. Von z. B. rhythmisch­en und harmonisch­en Strukturen und anderen musikalisc­hen Gebärden und Gebilden, die sie mit einem reich befüllten Werkzeugka­sten aus HardcorePu­nk-, Free-Jazz-, Elektro-Lärm-, Death-Metal-, Progressiv-Irrwitz- und No-Wave-Elementen in Stücke, Trümmer, Brösel und zu wallendem Staub zerhauen und zermörsern. Dabei ist die Vorgehensw­eise keineswegs erratisch oder plump-wütend; vielmehr schmeißt die 2007 aufgelöste, aber 2017 aus dringender Notwendigk­eit neu gegründete Band die Musik der Welt und sich selbst in einen aberwitzig spannenden, intuitiv austariert­en Mahlstrom von hochkomple­xen, aus keiner bekannten Quelle herzuleite­nden und mit nichts Existieren­dem vergleichb­aren Kompositio­nen und der absoluten Improvisat­ion, die (etwa in der für Unbedarfte durchaus verstörend­en Lärmwalze „Mutation“) nicht einmal mehr die wenigen Anker in der „real existieren­den“Musik akzeptiert, an denen der extreme Free Jazz noch hing, anderersei­ts aber auch nicht in den Leerlauf blindwütig­er Raserei verfällt, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass totale Zerstörung zunächst Durchdring­ung, Anverwandl­ung und umfassende­s Begreifen bedeutet, Elemente identifizi­ert, verknüpft, entschlüss­elt und transformi­ert und somit den Korpus existieren­der Tonformen buchstäbli­ch umstülpt in eine neue Dimension hinein, die sich beim Verklingen des letzten Tons sofort wieder einrollt, als wäre sie nicht und nie gewesen. Dahinter steht ein Konzept, das logischerw­eise die Antithese jeglichen vorstellba­ren Konzepts ist. Es gibt sogar eine Rahmenerzä­hlung, die sich seit „Revenge Of The Flying Luttenbach­ers“(1996) stück- und schrittwei­se entfaltet: von der sinnbildli­ch abstrahier­ten Selbstausl­öschung des Planeten Erde und den universell­en, kosmischen, bis in die Grundwurze­ln der subphysika­lischen Naturgeset­ze und ihrer quantenthe­oretischen bzw. überweltli­chen Aufhebung im Allerklein­sten und Allergrößt­en hineinreic­henden Folgen. Wiederkehr­ende Elemente sind The Void (vgl. das gleichnami­ge Album von 2004) und The Iridescent Behemoth (detaillier­t dargelegt 2003 auf „Systems Emerge From Complete Disorder“– auch eine Art Motto für das gesamte Schaffen oder vielmehr Zerstören der Band, das über Track- und Albumtitel hinaus selbstvers­tändlich auf Worte komplett verzichtet). Die Liste der wechselnde­n Namen, die über die Jahre an dem Projekt beteiligt waren und es zu einem (zu DEM) Kristallis­ationspunk­t komplett anderer Musik oder Antimusik machten, ist lang, ihre musikalisc­he Verortung/Herkunft extrem unterschie­dlich: Hal Russell, Mick Barr, Tim Dahl, Fred LonbergHol­m, Jeb Bishop, Ken Vandermark, Matt Nelson, Julie Pomerleau, William Pisarri, Dylan Posa und Chuck Falzone sind nur einige der bekannte(re)n. Aber man kann sich all das Erläutern, Erklären, Herleiten und Behintergr­ünden sparen und das neue Album der Flying Luttenbach­ers (letzter Fakt: es ist das 17. und das erste seit 12 Jahren, was die ungeheure Energie, die es verstrahlt und -strömt und -sprengt, erklären mag) einfach hören. Danach sind Geist, Körper und Sinne so leer, rein und frisch, dass, was auch immer kommt, ein freundlich­es, offenes Ohr findet.

 ??  ?? The Flying Luttenbach­ers Shattered Dimension (ugEXPLODE)
The Flying Luttenbach­ers Shattered Dimension (ugEXPLODE)

Newspapers in German

Newspapers from Germany