FRISCH GEPRESST / MEINE PLATTE
Manchmal hilft nur totale Zerstörung. Z. B. legte mir ein Freund das Debütalbum einer australischen Singer/Songwriterin ans Herz, das in der Tat recht lieblich und nett klingt. Indes verliefen sich alle Versuche, den Eindruck in Worte zu fassen, wie ein Glas Wasser, in der Wüste verschüttet, und abgesehen von dem wenig hilfreichen Bild der internationalen Singer/Songwriterei unserer Tage als staubsandiger Wanderdüne bleibt nichts zurück. Statt dessen drängt die Welt heran als Phänomen und Chimäre, als politische, sinnliche, kulturelle, musikalische Aufdrängung und Zumutung, als Walze der sinnleeren Bedröhnung, die das Hirn flutet, lähmt, zu ersticken droht. Und da hilft nur totale Zerstörung. Das ist die Stunde der Flying Luttenbachers, jener 1991 in Chicago von dem Schlagzeuger Weasel Walter gegründeten und aus ihm und wechselnden Extremisten bestehenden Band, die genau das als Daseinszweck und (indirekt formuliertes) Motto hinter ihrem vermeintlich harmlosen Namen führt: totale Zerstörung. Von z. B. rhythmischen und harmonischen Strukturen und anderen musikalischen Gebärden und Gebilden, die sie mit einem reich befüllten Werkzeugkasten aus HardcorePunk-, Free-Jazz-, Elektro-Lärm-, Death-Metal-, Progressiv-Irrwitz- und No-Wave-Elementen in Stücke, Trümmer, Brösel und zu wallendem Staub zerhauen und zermörsern. Dabei ist die Vorgehensweise keineswegs erratisch oder plump-wütend; vielmehr schmeißt die 2007 aufgelöste, aber 2017 aus dringender Notwendigkeit neu gegründete Band die Musik der Welt und sich selbst in einen aberwitzig spannenden, intuitiv austarierten Mahlstrom von hochkomplexen, aus keiner bekannten Quelle herzuleitenden und mit nichts Existierendem vergleichbaren Kompositionen und der absoluten Improvisation, die (etwa in der für Unbedarfte durchaus verstörenden Lärmwalze „Mutation“) nicht einmal mehr die wenigen Anker in der „real existierenden“Musik akzeptiert, an denen der extreme Free Jazz noch hing, andererseits aber auch nicht in den Leerlauf blindwütiger Raserei verfällt, sondern aus der Erkenntnis heraus, dass totale Zerstörung zunächst Durchdringung, Anverwandlung und umfassendes Begreifen bedeutet, Elemente identifiziert, verknüpft, entschlüsselt und transformiert und somit den Korpus existierender Tonformen buchstäblich umstülpt in eine neue Dimension hinein, die sich beim Verklingen des letzten Tons sofort wieder einrollt, als wäre sie nicht und nie gewesen. Dahinter steht ein Konzept, das logischerweise die Antithese jeglichen vorstellbaren Konzepts ist. Es gibt sogar eine Rahmenerzählung, die sich seit „Revenge Of The Flying Luttenbachers“(1996) stück- und schrittweise entfaltet: von der sinnbildlich abstrahierten Selbstauslöschung des Planeten Erde und den universellen, kosmischen, bis in die Grundwurzeln der subphysikalischen Naturgesetze und ihrer quantentheoretischen bzw. überweltlichen Aufhebung im Allerkleinsten und Allergrößten hineinreichenden Folgen. Wiederkehrende Elemente sind The Void (vgl. das gleichnamige Album von 2004) und The Iridescent Behemoth (detailliert dargelegt 2003 auf „Systems Emerge From Complete Disorder“– auch eine Art Motto für das gesamte Schaffen oder vielmehr Zerstören der Band, das über Track- und Albumtitel hinaus selbstverständlich auf Worte komplett verzichtet). Die Liste der wechselnden Namen, die über die Jahre an dem Projekt beteiligt waren und es zu einem (zu DEM) Kristallisationspunkt komplett anderer Musik oder Antimusik machten, ist lang, ihre musikalische Verortung/Herkunft extrem unterschiedlich: Hal Russell, Mick Barr, Tim Dahl, Fred LonbergHolm, Jeb Bishop, Ken Vandermark, Matt Nelson, Julie Pomerleau, William Pisarri, Dylan Posa und Chuck Falzone sind nur einige der bekannte(re)n. Aber man kann sich all das Erläutern, Erklären, Herleiten und Behintergründen sparen und das neue Album der Flying Luttenbachers (letzter Fakt: es ist das 17. und das erste seit 12 Jahren, was die ungeheure Energie, die es verstrahlt und -strömt und -sprengt, erklären mag) einfach hören. Danach sind Geist, Körper und Sinne so leer, rein und frisch, dass, was auch immer kommt, ein freundliches, offenes Ohr findet.