Alle sind irr, wirr und bedrohlich! Und drum bin ich einsam! (oder?)
Man sagt uns, daß wir immer mehr vereinsamen. Zwar hetzen, rauschen, wurlen ständig Menschen an uns vorbei, aber die meisten davon sind nicht echt, sondern nur Internetgeister, die uns ein Bildchen entgegenhalten, auf dem so was steht wie „Have a good day!“oder ähnliche Motivationsbefehle. Oder daß wir irgendwas teilen sollen, für Tier- oder Klimaschutz oder gegen Christian Lindner. So Zeugs wuscht naturgemäß sofort wieder weg, wie ein Eichkatzfurz oder das „Töröö!“, das der Märzsturm in den Gasofen hineinrülpst. Weil man einen guten Tag nicht „haben“, das Klima nicht „schützen“und den Menschen als solchen nicht daran hindern kann, Tiere zu quälen, schon gar nicht mit Internetbildchen; und wer sich mit Christian Lindner beschäftigt, ist selber schuld, wenn er depressiv oder zum Amokläufer wird. Schwupp, sind die Internetgeister wieder weg. Die übrigen Menschen nimmt man ebenfalls kaum wahr. Die stehen im Laden genau vor dem Regal, wo man grad einen Käse rausholen will, blockieren den Briefmarkenautomaten, weil man diese Geräte erst nach jahrelangem Studium fehlerfrei bedienen kann und offenbar jeder Mensch, der eine Briefmarke kaufen will, das nie zuvor getan hat. Schlimmstenfalls ziehen sie hordenweise ins gerade noch beschauliche Stadtteildorf hinein, werfen sich in ihre Neo-Biedermeier-Herrenreiter-Klamotte und blockieren mit herrischem Gehabe samt Gattin und Nachwuchs-LKW die Bürgersteige zwischen Leopold- und Schleißheimer Straße sowie sämtliche ausgewiesenen Pfade im Englischen Garten dermaßen vehement und effektiv, daß von dem erwähnten Vorbeirauschen nicht mehr die Rede sein kann. Da bleibt nur der fluchtartige Rückzug – aber wohin? Die meisten Kneipen sind längst zu Nobel-Hangouts für selbige Spezies aufgechict, die Münchner Innenstadt eine einzige Ansammlung absurder Weltnorm-Abgabestellen für absurd teure Lumpklamotten, und die im letzten Frühling noch unversehrt vor sich hin gammelnden Restbestände halbwegs naturwüchsig entstandener Siedlungen samt wuchernden Brachflächen dazwischen, die haben inzwischen die Stadtprojektierer entdeckt und ihre Baggerarmada losgeschickt, um Flora und Fauna wegzuschaufeln und ein Sammelsurium neuer, noch monströserer Unterkunftmaschinen für jene zu errichten, die den überflüssigen Reichtum der neuschwabinger Herrenreiter errödeln und sich – weil sie immerhin „in München“hausen – selbst als Teil einer privilegierten Elite fühlen, wenn sie nachts dem Fernbus entsteigen und ihr einsames Quartier aufsuchen. Es ist ein seltsames Leben in der neuen Klassen- und Ständegesellschaft, in der das späte 19. Jahrhundert fröhliche Urständ feiert und man nicht recht weiß, ob archaische Vokabeln wie „Leben“und „Gesellschaft“noch angemessen wiedergeben, was sich da abspielt. Und dann stellt man plötzlich fest oder läßt sich sagen, daß man vereinsamt. Weil Leben und Gesellschaft in dem bizarren Theater des sogenannten Alltags irgendwie nicht mehr stattfinden. Da wird man mißtrauisch, und unmerklich wandelt sich das Mißtrauen zu einer diffusen Furcht vor den Mitmenschen, in denen man Züge einer völlig anderen, neuartigen Spezies zu erkennen meint: Sind das nicht alles Soziopathen, Narzißten, antisoziale Psychoten, potentielle Selbstmordattentäter, Aliens, schizophrene Vampire, im schlimmsten Fall Klone von Christian Lindner? Zum „Glück“ist die Psychologie im digitalen Zeitalter eine Volkswissenschaft wie einstmals Kräuterkunde und Handlinienleserei. Wer ein bißchen im Internet herumwühlt, hat sich schnell einen Katalog einschlägiger Symptome anstudiert und weiß mit einem Blick bescheid: Dieser Kerl im 2.000-Euro-Mäntelchen, der gerade an der Basic-Kasse einen endlos komplizierten Handy-Bezahlvorgang durchführt, während 30 Leute warten – trägt der nicht das Kinn ein bißchen hoch, Schultern und Kreuz etwas zu stramm? Glotzt der Mann am Nebentisch im Biergarten nicht etwas zu ausgeglichen, selbstsicher und arrogant in die Welt? Hat mich der Typ in der SUV-Panzerkarre an der Ampel nicht mit etwas zu nervös flackerndem Blick betrachtet? Was macht das Modepüppchen da drüben an der Bar mit ihrer rechten Hand? Wieso faltet das Dating-Date beim Date-Frühstück das Butterpapier so eigenartig zusammen, während sie von ihrem Praktikum als Dingsbums-Controlling-Irgendwas berichtet? Fragt und redet diese Dame nicht etwas viel? Wieso zupft sich der Mann beim Vorstellungsgespräch ständig am linken Ohr? Wieso sehen die Männer, mit denen XY zusammenzieht, immer gleich aus, und warum enden die Beziehungen immer nach zwei Wochen immer auf die gleiche Weise? So analysiert und diagnostiziert man eifrig vor sich hin, bis feststeht: Die sind alle irre! Denen muß man so weit wie möglich aus dem Weg gehen! Bis man eines Tages in den Spiegel schaut, auch dort ein verhaltensgestörtes Monster erblickt (womöglich das schlimmste von allen) und sich gänzlich ins virtuelle Spektakel zurückzieht, um sich vor der Welt, die Welt vor sich und sich vor sich selbst zu schützen. Es könnte auch andersrum sein. Es könnte sein, daß wir nicht deswegen vereinsamen, weil die Welt vor irren, wirren und bedrohlichen Kreaturen nur so wimmelt und man einen entfesselten Kapitalismus und Schreckfiguren wie Christian Lindner braucht, um zu verhindern, daß der ganze Laden katastrophisch implodiert. Sondern umgekehrt. Aber wer mag das Risiko eingehen, diesen Gedanken versuchsweise praktisch umzusetzen?