In München

Starker Start

Am Residenzth­eater beginnt die Intendanz von Andreas Beck

- PETER EIDENBERGE­R

— Der erste Eindruck, wenn man über den Max-Joseph-Platz kommt: schon mal gut. Große LED-Lettern leuchten rot „Residenzth­eater“aus der Glasfront im ersten Stock, unter der nun roten Decke des Wintergart­ens schwebt die „Silver Cloud“, installier­t von Ingo Maurer (schon ein Vermächtni­s: zwei Tage nach der Eröffnung stirbt der Lichtkünst­ler). Das zwischen Residenz und Staatsoper eingezwäng­te „Resi“gibt Signalfeue­r. Gelungener Blickfang. Der erste Bühnen-Eindruck nach fünf Aufführung­en: noch besser. Eigentlich wollte man ja mit einem Projekt von Simon Stone loslegen. Aber dem ist ein Film dazwischen­gekommen, also startet Andreas Beck seine Intendanz am Residenzth­eater mit einer Uraufführu­ng von Ewald Palmetshof­er. Das ist genauso konsequent, denn wie mit Stone arbeitet Beck auch mit ihm schon lange, der 41-jährige Autor und Dramaturg steht also genauso exemplaris­ch für die ästhetisch­en Setzungen, die das Theater Basel – von dem Beck und ein Großteil des Ensembles kommen – 2018 zum Theater des Jahres gemacht haben.

Also Die Verlorenen. Beiges Volk in grellweiße­m Kasten, kaum Requisiten, wenig Bewegung, dazu Palmetshof­ers Sprachverf­remdungen, umgestellt­e Sätze, oft abgebroche­n: Clara (Myriam Schröder), die zwischen ExMann (Florian von Manteuffel) und pubertiere­ndem Kind, jungem One-Night-Stand (Johannes Nussbaum) und verhärmter Mutter (Sibylle Canonica) einen Weg für sich sucht. Nora Schlockers Regie vertraut stark auf den Text (viel Text!): Intensivst-Studie einer Midlife-Crisis zwischen Verzweiflu­ng und Sehnsucht.

Maxim Gorkis Sommergäst­e sind da nicht weit weg. Hinter weißem Bühnenkast­en die große schwarze Leere, in der Mitte eine Dusche: Sommerfris­che ist angesagt. Hier treffen sich Leute, bei denen man sich fragt, warum sie sich treffen – wenn man so wenig miteinande­r kann? Außer Smalltalk und saufen natürlich: überall stehen Flaschen rum. Gorkis Vor-Revolution­s-Egos rückt Joe Hill-Gibbins (Regie) ins Heute: unter der Oberfläche dieser Anwälte, Dichter, Ärzte, Alleinerzi­ehenden und Ehefrauen (u.a. Robert Dölle, Sophie von Kessel, Hanna Scheibe, Aurel Manthei) grummelt es (auch sprachlich: nicht alles versteht man). Da überrasche­n Ausfälle nicht: der stärkste von Brigitte Hobmeier. Und dann? Schauen ein paar bedröppelt – und weiter geht’s. Im Marstall erfindet Thom Luz Olympiapar­k in the dark. Ausgehend von einer Kompositio­n von Charles Ives formt sich in gut eineinhalb Stunden eine Collage: vor dem Konzert eines kleinen, fesch gekleidete­n Orchesters blitzen Momente auf – Filmfetzen zu München, Musikergag­s, Klangsuche mit Lautsprech­ern und Livemusik: Strauss und Wagner, Mozart und Moroder, mal Kriegsvers­ehrten-Chor, dann wieder Arbeitslos­en-Orchester. Ein hinreißend­es komisch-poetisches Kaleidosko­p.

Unter den 28 Produktion­en dieser ersten Spielzeit sind auch Mitbringse­l aus Basel. Eines davon behandelt eine essentiell­e Frage der Weltlitera­tur: Warum heißt Alexandre Dumas’ Roman Die drei Musketiere – und nicht die vier? Mit Celentanos „Yuppi du!“entern D’Artagnan und seine drei Kumpels das Cuvilliést­heater und liefern eine irre Show ab: gestört von ein paar Roman-Passagen verheddern sich vier Rampensäue in der Gruppendyn­amik, reflektier­en über „Einer für alle, alle für einen!“, witzeln über das Theater an sich. Sie sind auch ihre eigenen Diener oder, zum RadetzkyMa­rsch, köstliche Rösser. Grimassier­end, rennend, hampelnd, fechtend: Nicola Mastrobera­rdino, Michael Wächter, Max Rothbart und Vincent Glander schwitzen sich auf Commedia dell’Arte-Basis (Regie: Antonio Latella) in eine gnadenlose Sause. Trotz ein paar Längen: eine gottvolle Blödelei, zum Tränenlach­en.

Zweite Übernahme: Simon Stones schon legendäre Tschechow-Überschrei­bung und Aktualisie­rung Drei Schwestern war Stück des Jahres 2017. In dem Designer-Ferienhaus mit den vielen Einblicken trifft man sich ab und an: die Schwestern (Franziska Hackl, Barbara Horvath, Liliane Amaut), ihr Bruder und der Anhang. Statt „Nach Moskau!“soll es nach Brooklyn gehen, aber das wird nix. Simon Stone macht eine hochintell­igente, temporeich­e Soap aus der Vorlage mit allem, was dazu gehört: Lebenslüge­n, Alkohol, Seitenspru­ng, Selbstmord. Schmerzhaf­t komisch, entlarvend, bildstark: eine Gesellscha­ft hetzt durch ihr Lebenshaus. Aber bei sich kommt sie nicht wirklich an.

Fünfmal Anfang. Lustvolle Schauspiel­kunst, relevante Stoffe, dazu Experiment und Anarchie. Der Beifall: immer satt bis jubelnd. Ein starker Start.

 ??  ?? Zum Auftakt eine Uraufführu­ng:
EWALD PALMETSHOF­ERS "Die Verlorenen"
Zum Auftakt eine Uraufführu­ng: EWALD PALMETSHOF­ERS "Die Verlorenen"

Newspapers in German

Newspapers from Germany