In München

IMPRESSUM

- von Michael Sailer

Kann sich jemand München mit 20.000 Einwohnern vorstellen? Oder mit 20?

— Kaum etwas ist so hartnäckig wie ein Aberglaube. Wenn man den mal hat, geht er nicht mehr weg, weil er eigene Denkwege ins Gehirn gräbt und alle Gedanken da hineinpreß­t, und dann muß man über die eigene Blödheit lachen, weil man auf den Schmarrn hereingefa­llen ist.

Z. B. gibt es immer noch Menschen, die glauben, man könne Straßen, Stadtviert­el, ganze Städte „entlasten“. Die „Last“besteht z. B. bei einer Straße in den blechernen Tötungsmas­chinen. Das sind immer zu viele. Da meint man: Hey, laß uns die Straße noch breiter machen und noch drei neue Straßen bauen, dann wird die Straße entlastet!

Funktionie­rt aber nicht, weil es auf Aberglaube­n beruht. Straßen schaffen ihre eigene Nachfrage. Baut man drei neue, sind sie sofort verstopft. Baut man noch drei neue dazu, sind die auch sofort verstopft. Kurz gesagt: Baut man eine Straße für zehn Autos, werden 20 neue Autos gebaut und wollen drauf fahren.

Das weiß (im Prinzip) jeder. Dasselbe gilt für Wohnungen: Davon gibt es immer zu wenig. In München werden seit Jahrzehnte­n immer neue, immer gewaltiger­e Wohnmaschi­nen errichtet, Quadratkil­ometer zubetonier­t, und es hilft absolut nichts. Baut man zehn Wohnungen, stehen 20 Leute da und brauchen eine Wohnung. Baut man 10.000 Wohnungen, wollen 20.000 eine. Das summiert sich. Am Ende wollen Millionen eine Wohnung in München, und dann baut man eine Million Wohnungen in München und betoniert die ganze Fläche zwischen Bayerische­m Wald und Starnberge­r See zu, und schon wollen zwei Millionen Leute eine Wohnung in München. Es ist eine Spirale des Wahnsinns, in der wir rotieren. Mit jeder „Entlastung“verdoppelt sich die Last, und der Bedarf potenziert sich ununterbro­chen. Hilfe!

Und dann fängt aber irgendwann etwas zu bröckeln an. Dann stellt man fest, daß so gut wie sämtliche Tier- und Pflanzenar­ten so gut wie ausgestorb­en sind. Und der Sand geht aus. Und der Kies. Und das Wasser, das Öl, das Gas. Und alles mögliche andere. Plötzlich ahnt man, daß man es vielleicht übertriebe­n hat.

Dann steht man im Gewimmel an der Isar und denkt: Okay, noch mal doppelt so viele, was dann? Dann steht man in der U-Bahn, betrachtet die verkeilten, ausgebrann­ten Leiber der zerstreßte­n Menschenma­ssen, stellt sich vor, daß die sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln werden, und denkt: und dann?

Dann bauen wir hunderttau­send neue Wohnungen! schreit der Aberglaube. Es gibt aber keinen Kies, keinen Sand, kein Wasser, keinen Beton, keinen Platz, es gibt absolut nichts mehr! sagt der Rest von Vernunft. Auf den hört keiner. Mehr! weiter! schreien die Wahnsinnig­en in ihren Spekulatio­nsbüros, Planungs- und Baureferat­en. Es muß aber im Grunde keiner auf den Rest von Vernunft hören, weil sich solche Sachen von selbst erledigen.

Z. B. Rom: die wissen das aus Erfahrung. Da ist genau das, was in München zur Zeit passiert, schon vor eineinhalb Jahrtausen­den passiert. Da wollte jeder hin, da herrschte jahrzehnte­lang Wohnungsno­t, wurde gebaut wie wahnsinnig, bis die Stadt auf über eine Million Menschen angeschwol­len war. Ein paar Jahre später war es nicht mal mehr ein Zehntel, das in leerstehen­den Hochhäuser­n herumsaß und sich fragte, woher morgen das Frühstück kommen soll. Bald darauf war die Stadt praktisch ausgestorb­en. Kann sich jemand München mit 20.000 Einwohnern vorstellen? Oder mit 20?

Glaubt nicht, das sei ein Einzelfall. Tausende Städte auf diesem Planeten sind entstanden, gewachsen, explodiert und wieder implodiert und teilweise völlig verschwund­en. Die meisten kennt keiner mehr. Irgendwas hat halt nicht mehr gereicht für immer neu heranström­ende Massen: Wasser, Getreide, Bier, Wein, Spielkarte­n, Sojabohnen. Heute sind wir an dem Punkt angelangt, an dem praktisch alles nicht mehr reicht. Sand und Kies gibt es nur noch in ein paar Naturschut­zgebieten. 10.000 neue Wohnungen in München bedeuten zehn Naturschut­zgebiete weniger. Was anderersei­ts auch schon wurst ist.

Nein, nicht ganz. Noch leben wir. Noch haben die, die leben, ein Recht darauf, zu leben. Und mit denen, die leben, sind nicht Aktien, Maschinen und Börsenkurs­e gemeint. Sondern Menschen.

Neulich war im Fernsehen ein typisches Beispiel für den Wahnsinn zu sehen: Da jammerte ein verzweifel­ter Vater, er wohne mit Frau und zwei Töchtern in einer Dreizimmer­wohnung und finde ums Verrecken keine Fünfzimmer­wohnung in München, obwohl das doch absolut nötig sei. Da muß man doch planieren, ausrotten, betonieren!

Klar. Die Restvernun­ft antwortet spontan: Euch ist nicht mehr zu helfen. Zieht nach Rom. Aber bitte in das antike.

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