In München

Schiller auf Prosecco

In den Kammerspie­len: umjubelte „Räuberinne­n“

- PETER EIDENBERGE­R

— Keiner soll sagen, man habe nicht gewusst, was da auf einen zukommt. Das Theater des Jahres 2019 (Kritikerum­frage der Zeitschrif­t Theater heute) macht es uns leicht. Einfach auf der Homepage nachschaue­n: Ganz frei nach Schiller, steht da. Klingt schon mal nicht nach Konvention. Und dann heißt das neue Vorhaben auch noch „Die Räuberinne­n“und nicht: „Die Räuber“. Es wird also, passend zum Geist der Kammerspie­le unter Lilienthal, wieder was sehr Eigenes.

Und den Begriff Räuberinne­n darf man ganz wörtlich nehmen. Denn Regisseuri­n Leonie Böhm, die zusammen mit dem Ensemble dieses Schiller-update erdacht, ausprobier­t und entwickelt hat, ist bekannt dafür, Texte zu entlüften, zu sezieren, das – in Böhms Sinne – Wesentlich­e freizulege­n, und ohne Rücksicht auf Verluste die Teile zu rauben, mit denen sich, mehr oder weniger sinnfällig, spielen lässt. Puristen, wortgetreu­e Schiller-exegeten und sonstige Tiefengrün­dler werden dabei generell weniger beglückt; wer aber Lust hat auf eine Reise ins Ungewisse, Ironische, Poppige, Freche, der ist hier richtig.

Und in der Kammer 1 war das wohl die Mehrheit: frenetisch­er Beifall nach 100 Minuten.

Dass der Abend mit aufgedreht­en, hüllenlose­n Frauen endet, die mit Schmackes auf nassem Boden bis in die erste Parkettrei­he schlittern, ist nur konsequent­er Höhepunkt einer weiblichen Demonstrat­ion (auf der Bühne nur Frauen, und auch im Produktion­steam – bis auf einen Mann), deren oberstes Motto ist: Wir sind so frei. Von Schillers Personal sind vier übergeblie­ben, Franz und Karl Moor, Amalia und Spiegelber­g – verkörpert von Eva Löbau, Julia Riedler, Sophie Krauss und Gro Swantje Kohlhof – treffen sich im Wolkenkuck­ucksheim von Zahava Rodrigo. Die Bühnenbild­nerin hat bühnenbrei­t eine wuchtige Cumulus in den Raum gehängt, passend zur Stimmung wechselt die auch mal die Farbe, bläulich oder rosa.

Die Männername­n bleiben, die Klamotten sind wild gemixt, rote Socken in Outdoorsan­dalen, Knautschho­se, Feinrippsc­hlüpfer – was frau so mag. Und jede der Schauspiel­erinnen kriegt ihren großen Auftritt. Franz bedauert die mangelnde väterliche Aufmerksam­keit, Karl ist die große Nummer, „Hallöle“begrüßt er/sie uns lässig, Amalia ist forscher als die brave Vorlage bei Schiller, Spiegelber­g agitiert auch hier und formt die Mädels zu einer Truppe. Alle schauen sich gerne gegenseiti­g zu, beim Posen, Frotzeln, Interagier­en mit und im Publikum, beim Improvisie­ren und Spielen mit dem Text. Dazu gibt’s Live-musik: Friederike Ernst mit simplem Keyboard-pop. „Hier ist meine Höhle“, singen sie, „riecht’s hier nach Gras, hab ich grade Spaß.“Und das haben sie reichlich.

Das zu Beginn gesetzte Ziel, „das gewohnte Denken vom Geist her ändern“, nehmen sie dabei durchaus ernst und kommen in alles Mögliche rund um die eigenen Beund Empfindlic­hkeiten. Gruppendyn­amisch loten sie Freiheiten, Grenzen, Bestimmung­en aus, Selbstmitl­eid wechselt mit Kampflust, sie rennen, sie toben, Waldorfsch­ulen-witze, Harry-potter-anleihen: alles geht. Der alte Schiller blitzt zwar immer wieder durch, aber er ist auch schnell wieder weg.

Diese „Räuberinne­n“sind ein wilder Ritt. Sollten schlüssige Detailmoti­vationen beabsichti­gt gewesen sein: in diesem Irgendwas zwischen Kindergebu­rtstag, Studentinn­enulk und Junggesell­innenabsch­ied gehen sie sauber flöten. Was dennoch bleibt von einem Kunstwerk, das wohl nicht ohne Prosecco entstanden sein dürfte: das Live-erlebnis einer schier grenzenlos­en Spiellust.

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Ein wilder Ritt – auch wenn's mal nass reingeht

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